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Gruppenarbeit (Orientierungskurse) mit Flüchtlingsfrauen und Migrantinnen: Rückblick auf Erfahrungen aus zehn Jahren Arbeit bei accept

Synje Atmaca, Lehrerin, Sozialberaterin

Die Mehrheit der Flüchtlinge auf der Welt sind Frauen und Kinder. Die wenigsten von ihnen haben jedoch die Ressourcen, nach Europa zu gelangen. Daher gilt hier der alleinstehende, politisch aktive Mann als Prototyp des Flüchtlings. Auch vom deutschen Asylrecht wird er begünstigt, denn ein Asylsuchender muss individuelle, vom Staat ausgehende Verfolgung nachweisen, um hier anerkannt zu werden. Frauenspezifische Fluchtgründe werden im Asylverfahren (noch) nicht berücksichtigt.

Dies soll nicht heißen, dass Frauen nicht genau wie Männer politisch aktiv sind und ihr Leben aufs Spiel setzen. Aber aufgrund ihrer Rolle in den meisten Gesellschaften sind sie seltener als Männer in leitenden Positionen von politischen Organisationen anzutreffen, sondern gelten oft als "Helferinnen" ihrer männlichen Verwandten. Auch im deutschen Asylverfahren werden sie so wahrgenommen; oftmals wird ihnen sogar davon abgeraten, einen eigenen Asylantrag zu stellen, wodurch sie hier total vom Ehemann abhängig sind und bleiben.

So sagt der Aufenthaltsstatus einer Frau oft nicht viel über ihre Migrationsgründe aus. Auch Frauen, die hierherkommen, um einen (Flüchtlings)mann zu heiraten, sind oft selber Flüchtlinge, obwohl sie eine scheinbar sichere Aufenthaltserlaubnis haben. Da diese jedoch von der Ehe abhängt, hat die Frau auch im Falle von Misshandlung oft keine Möglichkeit, hier ein eigenständiges Leben zu führen.

Während Flüchtlingsmänner hier also viel mehr wahrgenommen werden und Flüchtlingsfrauen oft unsichtbar bleiben, sind es die Frauen, die in der "Fremde" / im Exil den Alltag für sich und ihre Familien organisieren. Sie sind es, die sich (auch durch ihre Kinder) oft eher als der Mann mit der neuen Gesellschaft auseinandersetzen (müssen).

Gleichzeitig wird die Integrationsleistung von Frauen oft nicht anerkannt. Während Männer in "wichtigen" Fragen selbstverständlich Hilfe und Beratung in Anspruch nehmen, stehen Frauen oft allein da. So brauchen Flüchtlingsfrauen ein Angebot, das speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist. Niedrigschwelligkeit ist hier ganz wichtig. Unsere Kurse sind kostenlos, so dass Frauen unabhängig von ihrer finanziellen Lage teilnehmen können. Gerade Flüchtlinge im Asylverfahren können sich andere Kurse nicht leisten. Außerdem kommt es vor, dass Frauen nicht selbständig über das Familieneinkommen entscheiden können und der Mann keine Notwendigkeit sieht, für ihren Sprachwerberb Geld auszugeben. Gleichzeitig bietet der Kurs den Frauen einen "legitimen" Grund, das Haus zu verlassen. Den Sprachkursbesuch können sie meist ohne Schwierigkeiten ihrem Umfeld gegenüber vertreten, während viele Frauen zögern würden zu sagen, dass sie das Bedürfnis nach Kontakt zu anderen oder nach einem Beratungsgespräch oder gar Therapie haben.

Jahrelange Erfahrung hat uns gezeigt, dass unsere Orientierungskurse für Frauen ein ideales Angebot für diese Zielgruppe sind. Damit Frauen sich selbständig in der neuen Gesellschaft behaupten können (und die Mütter unter ihnen den Schulbesuch ihrer Kinder begleiten können), ist es unabdingbar, dass sie Deutsch lernen. Dass dies nicht selbstverständlich ist, zeigen uns immer wieder Fälle von Frauen im mittleren Alter, die schon jahrelang in Hamburg leben, aber noch keinen Kurs besucht haben und kaum Deutsch sprechen. Statt diese Frauen als "hoffnungslose Fälle" aufzugeben, berücksichtigen wir die Gründe, die sie bisher am Spracherwerb gehindert haben: Trauer über den Verlust der Heimat, Angst vor Abschiebung, familiäre Verpflichtungen, Sorgen um die Zukunft der Kinder etc. So betonte eine Teilnehmerin Mitte 40 - eine sehr intelligente Frau - immer wieder, dass sie sich nicht konzentrieren könne. Diese Frau hatte wenige Jahre vorher im politischen Konflikt in der Heimat ein Kind verloren.

In unserem Kurs nehmen wir Rücksicht auf die unterschiedlichen Hintergründe und Voraussetzungen der Teilnehmerinnen. Die Frauen können in ihrem eigenen Tempo lernen und werden immer wieder ermutigt, sich zu beteiligen. Besonders die mündliche Sprachkompetenz ist wichtig, Wir greifen Themen aus ihrem Alltag in Hamburg auf - z.B. Umgang mit dem Sozialamt, Schule und Kindergarten, beim Arzt, beim Einkaufen, in Bus und Bahn etc. Der Kurs ist ein Orientierungskurs, d.h. die Teilnehmerinnen lernen hier nicht nur die deutsche Sprache, sondern erhalten viele Informationen über ihre neue Gesellschaft. Wir besprechen, wie die Behörden hier arbeiten (oft ganz anders, als sie es gewohnt sind), wie man eine Wohnung sucht und anmietet, wie man sich gesund ernährt und was bei Krankheit zu tun ist, wie das Schulsystem hier funktioniert, welche Ausbildungsmöglichkeiten es gibt und wie der Arbeitsmarkt aussieht. Außerdem gehören zum Vetrautwerden mit der neuen Heimat auch Geschichte und Kultur. So lesen wir zwischendurch immer wieder Kurzgeschichten und Gedichte, die vom Thema her relevant sind, von deutschsprachigen Autor/innen aus Vergangenheit und Gegenwart. In einem Semester lasen wir z.B. den (Jugend)roman Momo von Michael Ende - zum einen ein Klassiker, zum anderen ein Werk, das viele gesellschaftlich relevante Fragen aufwirft. Die Lektüre gab den Teilnehmerinnen immer wieder die Gelegenheit, auf Deutsch darüber zu sprechen, wie sie sich ein gutes Leben auf dieser Erde vorstellen.

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Eigenständiges Arbeiten wurde auch immer wieder geübt. So führten wir eine Kurseinheit zum Thema "Literatur" durch, in der jede Teilnehmerin sich intensiv mit einer Autorin aus ihrer Heimat beschäftigte und diese dann im Kurs vorstellte. Dazu lernten wir am Anfang die Bücherhallen (Zentralbibliothek) kennen, und die Frauen machten sich mit der Informationssuche dort vertraut, so dass sie die Bücherhallen in Zukunft auch selbst nutzen können. Wir erfuhren in diesem Seminar viel über die Situation von Schriftstellerinnen und Frauen allgemein und über Literatur in unterschiedlichen Ländern. Vorgestellt wurden so unterschiedliche Autorinnen wie Assia Djebar (Algerien), Huda Al Hilali (Irak / Hamburg), Zhang Jie (China) u.a.

Immer wieder bringen die Teilnehmerinnen selber Fragen und Erfahrungsberichte in den Kurs ein. So bietet der Kurs neben der Vermittlung von Sprache und anderen Informationen ein Forum, um sich über Themen auszutauschen, die für Flüchtlingsfrauen hier sehr wichtig sind, und die Teilnehmerinnen lernen dabei auch voneinander. Unsere Kurse sind sehr heterogen, d.h. es nehmen Frauen mit ganz unterschiedlichen Hintergründen teil - Unterschiede in Hinblick auf Nationalität, Sprache, Aufenthaltsstatus, Alter, Familienstand, Bildung, Religion... Zum einen machen die Teilnehmerinnen damit schon einen Schritt in Richtung Integration, denn sie kommunizieren auf Deutsch und müssen sich auf "Fremdes" einlassen. Zum anderen bietet die internationale Zusammensetzung auch Schutz für die Frauen, die der Enge ihrer eigenen Heimatcommunity "entfliehen" möchten - vielleicht, weil ihr Lebensentwurf dort nicht akzeptiert wird. Da alle Teilnehmerinnen jedoch die Erfahrung der Migration hinter sich haben und wissen, was es bedeutet, die Heimat, die Familie etc verlassen zu haben, ist trotz aller Unterschiede eine gewisse Vertrauensgrundlage da. Ob andere Teilnehmerinnen aus dem gleichen Land kommen oder nicht, ob einige die selbe Sprache sprechen oder nicht - sie treffen im Kurs auf andere Frauen, die in der Heimat oder hier Ähnliches erlebt haben. Menschen, die Flucht und Verfolgung nicht selber erlebt haben, können nie völlig begreifen, was das bedeutet. So wies eine Klientin, die in Haft gefoltert worden war, uns wiederholt darauf hin, dass selbst wir ihre Situation nicht ganz verstehen könnten.

Warum ein Kurs nur für Frauen, mögen manche jetzt fragen? Auch in unserem Team gab es darüber nicht immer Einigkeit. Ein Kollege meinte, im "wirklichen Leben" müssten Frauen sich doch auch mit Männern auseinandersetzen. Das stimmt natürlich, aber genau deswegen haben viele Frauen, die zu uns kommen, oft traumatische Erlebnisse hinter sich und brauchen Zeit, diese zu verarbeiten. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist ein Gefühl von Sicherheit und Vertrauen in die neue Umgebung. Frauen, die in der Heimat von Männern unterdrückt und misshandelt wurden, auf der Flucht Männern ausgeliefert waren, im Asylverfahren wieder von männlichen Polizisten und Anhörern erniedrigt werden, in der Unterkunft Belästigungen seitens männlicher Mitbewohner ausgesetzt sind, und sich in vielen Fällen auch in ihrem eigenen Zuhause nicht sicher fühlen vor männlicher Gewalt, brauchen irgendwo einen sicheren Ort. Diesen wollen wir ihnen bieten. Der Frauenkurs soll zum einen Frauen eine Möglichkeit bieten, die aus unterschiedlichen Gründen an gemischten Angeboten nicht teilnehmen wollen / können - und zum anderen ein Forum für alle Frauen sein, in dem sie sich unter Frauen über alle Fragen austauschen können, die sie bewegen und die sie in einer gemischten Gruppe vielleicht nicht einbringen würden. Oder die in einer gemischten Gruppe zu einem ganz anderen Ergebnis führen würden. Es geht nicht darum, sich vor der "Welt draußen" zu verstecken, sondern Kraft und Selbstbewusstsein zu tanken, um gestärkt hinausgehen zu können. Und unsere Erfahrung hat gezeigt, dass die Teilnehmerinnen mit unserer Unterstützung weitere Schritte in die Gesellschaft hinaus wagen und sich oft erfolgreich "integrieren". So bedankte sich eine Frau, die wir in ihrer Anfangszeit in Hamburg jahrelang betreut haben, auf unserem Abschiedsfest mit folgenden Worten: "Bei euch habe ich Selbstbewusstsein gelernt - und dass ich hier allein leben und alles machen kann."

Die Betreuung bei accept ist ganzheitlich. Wie am Anfang dargelegt, ist der Orientierungskurs eine gute Möglichkeit für Frauen, uns und unser Angebot kennen zu lernen. Vor und nach dem Kurs biete ich eine Sprechstunde für diejenigen an, die spezielle Fragen oder Probleme haben, die sie einzeln mit mir besprechen möchten. Da geht es oft um familiäre Schwierigkeiten, aber auch um Krankheit, finanzielle Probleme oder Vermittlung zu Behörden. Eine Teilnehmerin machte sich z.B. große Sorgen um ihren jugendlichen Sohn - ein Thema, das wir in unserem Seminar zu Erziehung (s.u.) auf allgemeinerer Ebene wieder aufgriffen.

Bei accept arbeiten wir interdisziplinär. Wenn ich im Kurs oder in der Sprechstunde merke, dass eine Frau psychologische Beratung braucht, setze ich mich mit meiner Kollegin Frau Dr. v.d. Lühe in Verbindung, die Psychotherapeutin ist - oder in Einzelfällen auch mit meinem Kollegen Manuel Novoa. So wandte sich zum Beispiel eine Klientin an mich, die sich im Asylverfahren befindet und mit ihrer vierköpfigen Familie nur ein einziges Zimmer in der Unterkunft zur Verfügung hat. Sie klagte darüber, dass ihr zehnjähriger Sohn sich auffällig verhalte, und bat um einen Beratungstermin für ihn. Im Gespräch mit unserem Therapeuten wurde ihr dann klar, dass eigentlich sie und ihr Mann therapeutische Hilfe brauchen. Auch umgekehrt schicken unsere TherapeutInnen Klientinnen zu mir in den Kurs oder die offene Frauengruppe, wo sie in geschützter Umgebung die ersten Kontakte zu anderen knüpfen können. So betreuten meine Kollegin und ich gemeinsam eine junge Frau, die in ihrer Heimat in Polizeigewahrsam gefoltert worden war. Diese Klientin wollte lange Zeit mit niemandem sonst sprechen und vermied es, bei uns auf dem Flur von Landsleuten gesehen zu werden. Irgendwann jedoch war sie bereit, in den Frauenkurs zu kommen, wo sie schnell die Bekanntschaft mit einer anderen Klientin machte, die für sie zu einem wichtigen Kontakt wurde. Inzwischen besucht diese junge Frau einen vom Arbeitsamt vermittelten Deutschkurs mit dem Ziel, eine Ausbildung zu machen.

Obwohl accept viel mehr Anfragen nach Therapieplätzen erhält als Kapazitäten da sind, ist uns nie mehr als eine Therapeutenstelle bewilligt worden. Auch deshalb sind die anderen psychosozialen Angebote besonders wichtig. Die SozialberaterInnen sind bei unterschiedlichen Angelegenheiten AnsprechpartnerInnen der Flüchtlinge und bieten Gespräche, Zuhören, eine entspannte, beruhigende Atmosphäre, Vertrauen, Verständnis, Parteilichkeit und das gemeinsame Suchen nach Lösungsmöglichkeiten. Die KlientInnen fühlen sich ernst genommen und nicht allein gelassen. Sie finden bei uns einen Halt und kommen genau deshalb immer wieder. Auch in der Krise sind wir die erste (und letzte) Anlaufstelle. Die psychosoziale Betreuung ist also in vielen Fällen eine Ergänzung zur Therapie, manchmal ein Ersatz, wenn kein Therapieplatz frei ist - aber für einige KlientInnen ist sie auch eher geeignet als Therapie (noch niedrigschwelliger). Ein besonderes Angebot ist dabei die Gruppenarbeit.

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Der offene Frauennachmittag bietet den Frauen die Möglichkeit, unverbindlich andere in ähnlicher Situation und die Beraterin kennenzulernen und gemeinsam etwas zu machen. Das Programm wird zusammen mit den Teilnehmerinnen gestaltet - so, dass für jede etwas dabei ist und jede sich angenommen und dazugehörig fühlt. Wie schon erwähnt, werden manchmal die Themen aus dem Orientierungskurs weitergeführt oder ergänzt - z.B. durch einen Film oder eine Geschichte oder die Vertiefung einer Frage, die im Kurs aufgeworfen wurde. Auch unabhängig vom Kurs haben wir uns mit unterschiedlichen Fragen der Teilnehmerinnen beschäftigt - Fragen zur rechtlichen Situation von Flüchtlingen und Migrantinnen, zu Gesundheit, Bildung, Arbeit etc. Manchmal läuft eine thematische Einheit über mehrere Termine - so z.B. "Frauenrechte" Ende 2003. Wir gingen der Frage nach, was Menschenrechte sind, und warum Frauenrechte überhaupt gesondert eingefordert werden müssen. Dabei betrachteten wir sowohl Beispiele aus der Geschichte als auch der Gegenwart, und die Teilnehmerinnen berichteten über die Situation in ihrer Heimat.

Auf die Beteiligung der Teilnehmerinnen legen wir viel Wert, denn dadurch wird jede mal zur "Expertin". In Gruppen oder zu zweit haben Teilnehmerinnen Seminare über ihr Land vorbereitet. An anderen Terminen haben wir internationale Kulturnachmittage veranstaltet, zu denen jede einen Beitrag (meist zu einem gemeinsamen Thema) mitgebracht hat. Einzelne Frauen haben auch spezielle Themen ganz allein vorbereitet - z.B. zu Chinesischer Medizin, Kochen und Malen.

Zu anderen Themen haben wir Expertinnen von auswärts eingeladen: So berichtete die Rechtsanwältin Sigrid Töpfer über das Ausländergesetz, die Psychologin Jutta Schneider über Gewalt gegen Frauen, die Gynäkologin Emine Cetin über den weiblichen Körper und Schwangerschaft und die Oecotrophologin Hülya Sevüktekin über gesunde Ernährung.

Während einige Frauen sich gerne mit Sprache und Texten beschäftigen, arbeiten andere lieber mit ihren Händen und drücken sich auf diese Weise kreativ aus. Eine beliebte Aktivität in der Gruppe war das Nähen: Dabei konnten einige Teilnehmerinnen, die im Deutschkurs eher zurückhaltender sind, den anderen vieles zeigen. Die Frauen nähten Kleidung für sich selbst, und im Jahre 2003 stellten wir ein großes Wandbild für die Räume von accept her, auf das die Teilnehmerinnen Motive aus ihrer Heimat und hier nähten und ihre Wünsche für diese Welt zum Ausdruck brachten.

Ein weiteres kreatives Angebot war der Töpferkurs, den die Töpferin Petra Schmidt aus der Fabrik mit uns durchführte.

Auch Sport hilft den Frauen, sich in ihrem Körper wohler zu fühlen. Eine beliebte Gruppenaktivität war daher das Schwimmen. Außerdem besuchte die Sportpädagogin Renate Heim öfter unsere Gruppe und machte Gymnastik und ein Selbstbehauptungstraining mit den Teilnehmerinnen.

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