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FAQs: Migration  FAQs: Migration

 

Klaus J. Bade, Jochen Oltmer, Normalfall Migration: Texte zur Einwandererbevölkerung und neue Zuwanderung im vereinigten Deutschland seit 1990, Bundeszentrale für Politische Bildung bpb 2004

Kapitel 1 Wanderungen und Wanderungspolitik

Vom späten Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs

1.1 Ein Auswanderungsland wird „ Arbeitseinfuhrland" - Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert

1.2 „Feindliche Ausländer" im Ersten Weltkrieg

1.3 Migration und Protektionismus in der Zwischenkriegszeit

1.4 Arbeitsmarktkontrolle und Zuwanderungsbegrenzungspolitik

1.5 Flucht, Vertreibung und Emigration als Massenphänomene

1.6 Flucht, Deportation und Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg


1.3 Migration und Protektionismus in der Zwischenkriegszeit

Der Erste Weltkrieg hatte mit seinem extremen Nationalismus die Ausgrenzung von Minderheiten und die Ausbreitung von Fremdenfeindlichkeit gefördert. Er bildete für die Entwicklung der Migrationsverhältnisse mit seinen massiven staatlichen Interventionen in weiten Bereichen von Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur eine wichtige Zäsur, sondern auch einen ganz wesentlichen Katalysator. Vor allem der Arbeitsmarkt war in der Kriegswirtschaft ein bevorzugtes Objekt staatlicher Kontrolle und Intervention geworden. Rekrutierungen von Arbeitskräften von außerhalb der nationalen Arbeitsmärkte hatten hierbei eine herausragende Rolle gespielt. Arbeitsmarktpolitik und die damit unmittelbar verbundene Ausländerbeschäftigungspolitik entwickelten sich in der Nachkriegszeit vor allem aufgrund dieser Erfahrungen zu einem wesentlichen Politikbereich.

Vor dem Hintergrund einer krisenhaften Entwicklung von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik war Deutschland zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs 1918 und der Weltwirtschaftskrise Anfang der 1930er-Jahre Aus- und Zuwanderungsland zugleich. Im Vergleich zur Vorkriegszeit stieg die Auswanderung stark an. Während die jährliche Fluktuation von Arbeitswanderern auf einem wesentlich niedrigeren Niveau blieb, nahmen Flucht- und Zwangswanderungen deutlich zu (Jährliche Fluktuation der kontinentalen Zuwanderung. Legitimationsdata der Deutschen Feldarbeiterzentrale 1910-1920, PDF 152 kb).

Das Wanderungsgeschehen in der Weimarer Republik wurde geprägt durch eine Vielfalt von wichtigen, zum erheblichen Teil parallel laufenden grenzüberschreitenden Zu- und Abwanderungsprozessen bzw. von unfreiwilligen In- und Auslandsaufenthalten in Gestalt von Flucht, Vertreibung und Kriegsgefangenschaft:

- die Auswanderung von mehr als 600000 Menschen nach Übersee;

- die durch die sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Nachkriegsinflation bis 1923 forcierte Arbeitswanderung vornehmlich in das westeuropäische Ausland;

- die Zuwanderung und Eingliederung von mindestens einer Million Deutschen aus den nach dem Ende des Krieges abgetretenen Gebieten des Reiches;

- die Rückwanderung von „Ruhrpolen" in den wieder hergestellten polnischen Staat bzw. ihre Weiterwanderung nach Nordfrankreich;

- die Zuwanderung und Eingliederung von „Deutschen fremder Staatsangehörigkeit" aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa;

- die Anwesenheit Hunderttausender Flüchtlinge aus dem Russland der Revolution und des Bürgerkriegs;

- die Zuwanderung sowie die Eingliederung oder Abschiebung osteuropäischer Juden;

- die in der unmittelbaren Nachkriegszeit bis 1921/22 ungeklärte Situation Hunderttausender während des Krieges internierter Kriegsgefangener vornehmlich aus Russland, die trotz des Waffenstillstandes nicht zurückkehren konnten oder wollten;

- schließlich die jährliche Fluktuation von Hunderttausenden von Arbeitswanderern vornehmlich aus Ostmittel- und Südosteuropa.

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Wie diese Liste der wichtigsten grenzüberschreitenden Wanderungsbewegungen zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise zeigt, waren Migrationen in der Zwischenkriegszeit nicht nur sozioökonomische Erscheinungen. Sie waren in ganz besonderem Maße auch 1. politisch bedingte und 2. politisch gesteuerte Phänomene:

1. Politisch bedingte, mit dem Ende des Ersten Weltkriegs und den Staatenbildungsprozessen in seiner Nachfolge in unmittelbarem Zusammenhang stehende Zwangswanderungen (Flucht, Umsiedlung, Vertreibung) gewannen in der Zwischenkriegszeit erheblich an Bedeutung. Ein Großteil des Migrationsgeschehens nach 1918 ist auf die Folgen des Ersten Weltkriegs zurückzuführen. Das 20. Jahrhundert wird nicht zu Unrecht als „Jahrhundert der Flüchtlinge" bezeichnet.

Mit dem Ersten Weltkrieg und vor allem der unmittelbaren Nachkriegszeit erreichten die Migrationen ihren ersten Höhepunkt: Massenfluchtbewegungen begleiteten vor allem den russischen Bürgerkrieg und die Staatenbildungen in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Deutschland wurde im ersten Jahrfünft nach dem Waffenstillstand im November 1918 Ziel verschiedener Zuwanderungsbewegungen, die unmittelbare Kriegsfolgen waren.

2. Die Migrationsverhältnisse wurden zunehmend durch migrationspolitische Kontrolle, Steuerung und protektionistische Abgrenzung bestimmt. Ein isolierter Blick auf Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg könnte vermuten lassen, eine solche protektionistische Wende mit tief greifenden Folgen für die Migrationsverhältnisse müsse vor allem als Antwort auf die krisenhafte Entwicklung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt in der Weimarer Republik gesehen werden. Dieser Befund aber ließe sich nicht verallgemeinern und würde auch für Deutschland nicht alle Ursachen offen legen, denn der Protektionismus wuchs nachgerade überall: Die französische Wirtschaft beispielsweise prosperierte nach der Überwindung einer durch ökonomische und soziale Kriegsfolgelasten geprägten Nachkriegskrise, die wie in Deutschland durch erhebliche Probleme bei der Bewältigung der Inflation gekennzeichnet war. Dennoch zeigt sich auch in Frankreich eine klare protektionistische Wende. Jenseits des Atlantiks erlebten die USA als wichtigstes europäisches Einwanderungsland in den 1920er-Jahren in ihrer Rolle als eigentliche ökonomische Gewinnerin des Ersten Weltkriegs eine wirtschaftliche Boomphase, die aber von einer protektionistischen Einwanderungspolitik begleitet war.

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1.6 Flucht, Deportation und Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg

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