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FAQs: Migration  FAQs: Migration

 

Klaus J. Bade, Jochen Oltmer, Normalfall Migration: Texte zur Einwandererbevölkerung und neue Zuwanderung im vereinigten Deutschland seit 1990, Bundeszentrale für Politische Bildung bpb 2004

Kapitel 1 Wanderungen und Wanderungspolitik

Vom späten Kaiserreich bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs

1.1 Ein Auswanderungsland wird „ Arbeitseinfuhrland" - Deutschland im 19. und frühen 20. Jahrhundert

1.2 „Feindliche Ausländer" im Ersten Weltkrieg

1.3 Migration und Protektionismus in der Zwischenkriegszeit

1.4 Arbeitsmarktkontrolle und Zuwanderungsbegrenzungspolitik

1.5 Flucht, Vertreibung und Emigration als Massenphänomene

1.6 Flucht, Deportation und Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg


1.5 Flucht, Vertreibung und Emigration als Massenphänomene

Die Friedensverträge, die den Ersten Weltkrieg formell beendeten, führten zu einer weit reichenden Veränderung der politischen Ordnung in Europa. Die drei europäischen Kaiserreiche – das Deutsche Reich, die Donaumonarchie und das Zarenreich – fanden ihr Ende. 14 neue Staaten entstanden, Außengrenzen in einem Umfang von 11000 km kamen damit in Europa neu hinzu. Minderheiten wurden zu Mehrheiten, Mehrheiten zu Minderheiten, Fluchtbewegungen und Umsiedlungen erreichten ein Ausmaß, das selbst der Erste Weltkrieg nicht gekannt hatte. Jede der vielen Grenzverschiebungen in der Folge des Ersten Weltkriegs führte zu Fluchtbewegungen und Umsiedlungen.

In allen Fällen lassen sich gewisse Grundmuster der Abwanderung ausmachen: Den Anfang machten Verwaltungsbeamte, Polizisten, Lehrer und andere Personen, die unmittelbar mit dem vormals herrschenden Staat verbunden waren. Dann gingen häufig Unternehmer und Geschäftsleute, die ihr Gewerbe durch neue Zollgrenzen, neue Währungen oder neue Gesetze bedroht sahen. Verfolgten die neuen Regierungen zudem eine restriktive Minderheitenpolitik, konnte sich die Abwanderung schnell zu einer Massenbewegung entwickeln.

Die Mittelmächte des Ersten Weltkriegs, also das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn, das Osmanische Reich und Bulgarien als die Kriegsverlierer, waren in der unmittelbaren Nachkriegszeit gezwungen, insgesamt mindestens zwei Millionen Menschen aus den verloren gegangenen Territorien aufzunehmen. Es kann davon ausgegangen werden, dass aufgrund der politischen Veränderungen durch die Friedensverträge etwa fünf Millionen Menschen unfreiwillig die Grenzen überschritten. Auch Deutschland war von solchen Bewegungen betroffen. Nach Einschätzung des Statistischen Reichsamts waren Mitte der 1920er-Jahre mehr als eine Million Menschen aus den abgetretenen Gebieten abgewandert.

Damit handelte es sich um die größte unter allen Zuwanderungsbewegungen, die die Weimarer Republik zu bewältigen hatte – und das von 1918 bis 1923, innerhalb weniger, durch schwere wirtschaftliche, soziale und politische Krisen gekennzeichnete Nachkriegsjahre. Allein aus Elsass-Lothringen kamen rund 120000 Menschen in das Rest-Reich, weitere 16000 Zuwanderer stammten aus den ehemaligen deutschen Kolonien. Weitaus umfangreicher noch war die Zuwanderergruppe aus den nach dem Versailler Vertrag (in Kraft gesetzt am 10. Januar 1920) an Polen abgetretenen Ostgebieten des Reiches.

Bis Mitte 1925 zählte das Statistische Reichsamt 850000 deutsche Abwanderer aus den polnischen Westgebieten, von denen viele bei ihrer Ankunft im Reich zunächst in eines der an der gesamten Ostgrenze verteilten Durchgangslager („Heimkehrlager“) gebracht wurden. In den Jahren 1920 bis 1925 errichtete das Reich insgesamt 26 solcher Durchgangslager, die Ende 1922/Anfang 1923 ihre höchsten Belegstärken mit zeitgleich etwa 40000 Menschen erreichten.

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Die Aufnahme von Deutschen aus den Gebieten, die nach dem Ersten Weltkrieg an Polen, Frankreich, Belgien, Dänemark und die Tschechoslowakei abgetreten werden mussten, stellte die Weimarer Republik unter erheblichen Legitimationsdruck. Zum einen sah sie sich aus kriegsfolge- und staatsangehörigkeitsrechtlichen Gründen gezwungen, die Aufnahme der Abwanderer zu organisieren. Zum anderen erschien diese Aufnahme als eine erhebliche Belastung für die Wirtschaft, den Arbeitsmarkt und das soziale Sicherungssystem der unmittelbaren Nachkriegszeit. Darüber hinaus galt der Verbleib der Deutschen in den abgetretenen Gebieten zugleich als eine Zukunftsoption: Starke deutsche Minderheiten in den Abtretungsgebieten schienen die Chancen einer erfolgreichen deutschen Revision der europäischen Nachkriegsordnung wesentlich zu heben.

In einem ähnlichen Dilemma stand die Weimarer Republik gegenüber der Zuwanderung von „Deutschstämmigen“ aus den deutschen Siedlungsgebieten in Ost-, Ostmittel- und Südosteu­ropa. Sie wurden zwar finanziell und politisch massiv unterstützt, denn auch sie galten als wichtige Einflussfaktoren der deutschen Außenpolitik gegenüber den Staaten Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas. Deshalb war das Hauptziel der Politik die „Erhaltung des Deutschtums“ in diesen Siedlungsgebieten. Dazu beitragen sollte ein enger Kontakt mit Deutschland, wozu insbesondere die Beschäftigung in der deutschen Industrie und Landwirtschaft gezählt wurde. Auf Dauer bleiben aber sollten die „Deutschstämmigen“ nicht. Ihre Einwanderung galt als Belastung und wurde zugleich als Gefahr für das Weiterbestehen der deutschen Siedlungsgebiete betrachtet.

Das Interesse an den „deutschstämmigen“ Siedlern in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa war im Kaiserreich Ende des 19. Jahrhunderts erwacht. Die Rückwanderung „deutschstämmiger“ Siedler, insbesondere aus Russland, ins Reich schien im kaiserlichen Deutschland aus bevölkerungs- und nationalitätenpolitischen Gründen nutzbringend zu sein: Zum einen sollten Landarbeiter aus den deutschen Siedlungsgebieten im Osten dazu beitragen, polnische Arbeitswanderer aus den ostelbischen landwirtschaftlichen Großbetrieben zu verdrängen. Zum anderen sollten russlanddeutsche Bauern als Kolonisten das von Bismarck 1886 aufgelegte, groß angelegte landwirtschaftliche Ansiedlungsprogramm im preußischen Osten unterstützen, für das sich einheimische Bewerber nicht in ausreichendem Maße gemeldet hatten. Das Ansiedlungsprogramm zielte, ebenfalls im Sinne der antipolnischen „Abwehrpolitik“, auf den staatlich finanzierten Ankauf polnischer landwirtschaftlicher Betriebe und die hoch subventionierte Ansiedlung von Deutschen.

Im Ersten Weltkrieg wuchs die Bedeutung der deutschen Siedlungskolonien in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa für das Reich vor allem in bevölkerungspolitischer Hinsicht noch weiter: Intensiv diskutiert wurde die Frage der Ansiedlung russlanddeutscher Bauern in den neu eroberten Gebieten des Ostens, die in einem breiten Streifen östlich der preußischen Grenzen annektiert werden sollten. Hinzu kamen Überlegungen, die Grenzen für die Zuwanderung von „Deutschstämmigen“ weit zu öffnen, um die starken Menschenverluste durch den Krieg auszugleichen.

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Mit der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg endete allerdings das Interesse an einer solchen Rückwanderung von Deutschstämmigen aus Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa. Rückwanderer galten nun, wie oben gezeigt, nicht mehr als bevölkerungspolitischer Gewinn, sondern als Belastung für Wirtschaft, Gesellschaft, Arbeitsmarkt und die Beziehungen zu den Herkunftsländern. Die Weimarer Republik betrieb daher keine aktive „Rückwanderungs“-Politik mehr. Die Gründe dafür lassen sich wie folgt zusammenfassen: Innerhalb der gegen den Versailler Vertrag von 1919 gerichteten Revisionspolitik der Weimarer Zeit konnten „deutschstämmige“ Siedler im ost-, ostmittel- und südost­europäischen Ausland als Instrumente der deutschen Einflussnahme auf die jeweilige Innenpolitik dieser Staaten eingesetzt werden.

Deutsche Minderheiten in Ost-, Ostmittel- und Südosteu­ropa erschienen der deutschen Außenpolitik daher nur dann als nützlich, wenn sie ihre Siedlungsgebiete nicht verließen. Angesichts dieser wesentlichen Funktion lag die Stabilisierung dieser Minderheiten durch vielfältige Hilfeleistungen, zumeist über verdeckte Finanzoperationen, im deutschen Interesse. Eine Schwächung oder gar Auflösung der deutschen Siedlungsgebiete in Ost-, Ostmittel- und Südosteuropa durch Abwanderung hingegen suchte die deutsche Politik zu verhindern. Selbst existenzbedrohende wirtschaftliche, soziale und politische Krisen, wie etwa für die Russlanddeutschen die schwere Hungerkrise 1921 bis 1924 und die Kollektivierung der sowjetischen Landwirtschaft ab Ende der 1920er-Jahre führten nicht zu einer großzügigeren Aufnahmepolitik der Weimarer Republik.

Die etwa 120000 „Deutschstämmigen“, die zwischen 1917 und 1921/22 in den Kriegs- und Nachkriegswirren aus dem ehemaligen Zarenreich ins Reich gekommen waren, suchten zu rund der Hälfte den Weg nach Übersee oder wanderten zu Tausenden wieder zurück nach Polen oder in die UdSSR. Ebenso unerwünscht wie die dauerhafte Übersiedlung von „Deutschstämmigen“ blieb ihre Einbürgerung. Erwünscht waren nur saisonale Zuwanderungen „deutschstämmiger“ Arbeitskräfte, die der ökonomischen und kulturellen „Hebung“ der deutschen und „deutschstämmigen“ Minderheiten im Ausland durch verstärkte Kontakte zwischen „Mutterland“ und Diaspora dienen sollten und zugleich polnische Arbeitskräfte verdrängen konnten.

Die umfangreichste Gruppe unter den Flüchtlingen im Nachkriegseuropa bildeten die wahrscheinlich zwei Millionen Emigranten aus dem von Revolution und Bürgerkrieg zerrütteten ehemaligen Zarenreich. Während im Revolutionsjahr 1917 erst wenige Menschen Russland hatten verlassen müssen, darunter viele Angehörige des hohen Adels und Unternehmer, die häufig große Teile ihres Besitzes retten konnten, entwickelte sich die Fluchtbewegung im Zuge des russischen Bürgerkriegs zur Massenerscheinung. Vor allem 1920 und 1921 nahm die Zahl der Flüchtlinge mit den Niederlagen der konterrevolutionären „weißen“ Truppen stark zu. Die schwere Hungersnot in Russland, Weißrussland und der Ukraine 1921/22, von der nicht weniger als 22 Millionen Menschen betroffen waren und in deren Verlauf wahrscheinlich drei Millionen Menschen starben, trug ebenfalls erheblich zum Anstieg der Zahl der Flüchtlinge bei. Hinzu kamen zahlreiche Ausweisungen der revolutionären Sowjetregierung, die 1922 ihren Höhepunkt erreichten.

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Die Flüchtlinge aus dem ehemaligen Zarenreich wurden buchstäblich über die ganze Welt verstreut. Der größte Teil aber sammelte sich zunächst in den Balkanländern, in Deutschland und Frankreich. Starke Flüchtlingskolonien gab es selbst in den chinesischen Städten Charbin und Shanghai. Deutschland wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit das zunächst wichtigste Aufnahmeland für die russischen Flüchtlinge. Insgesamt sollen sich nach Zählungen 1919 rund 100000 Flüchtlinge im Deutschen Reich aufgehalten haben; für das Folgejahr 1920 lauten wahrscheinlich zu hoch liegende Schätzungen dann schon auf 560000 Russen in Deutschland. Ihr Maximum erreichte die Zahl russischer Flüchtlinge in den Jahren 1922 und 1923. Nach Angaben des Völkerbundes und des Auswärtigen Amtes hielten sich in diesen beiden Jahren rund 600000 russische Flüchtlinge im Reichsgebiet auf, von denen 1923 allein in Berlin rund 360000 Menschen Asyl gefunden haben sollen.

Die Wohnungsnot und die schwierige Lage auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland machten die Flüchtlingsaufnahme zu einem erheblichen sozialen Problem. Sammelunterkünfte wurden in großer Zahl eingerichtet. Nicht selten handelte es sich um ehemalige Kriegsgefangenenlager. Mehrere „Russenlager“, unter anderem in Scheuen bei Celle, Wünsdorf bei Berlin, Quedlinburg, Warmbeck und Frankfurt/Oder entstanden Anfang der 1920er-Jahre, die zum Teil für viele Jahre notdürftige Unterkünfte der Flüchtlinge bildeten.

Rasch setzten Weiterwanderungen ein. Nach 1923 sank die Zahl der russischen Flüchtlinge im Exilland Deutschland immer weiter ab: 1925 sollen sich nur noch rund 150000 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Zarenreich in Deutschland aufgehalten haben; für 1928 ist ebenfalls von etwa 150000 Russen die Rede, für 1933 noch von etwa 100000. Bildete zunächst das „Russische Berlin“ das europäische Zentrum der Emigration mit wichtigen kulturellen und politischen Funktionen, übernahm mit der Abwanderung vieler Flüchtlinge aus Deutschland Mitte der 1920er-Jahre das „Russische Paris“ diese Rolle und behielt es bis zum Einmarsch der deutschen Truppen 1940. Frankreich, und hier insbesondere Paris und die unmittelbar angrenzenden Départements, wurde vor allem deshalb zum wichtigsten Ziel für die russische Emigration, weil die französische Regierung zu diesem Zeitpunkt eine offensive Einwanderungspolitik betrieb und die französische Wirtschaft Arbeitskräfte suchte. Doch die Mehrheit der Flüchtlinge wanderte weiter über den Atlantik, und Nordamerika wurde immer häufiger Ziel der stufenweisen räumlichen Distanzierung von der russischen Heimat. Der Zweite Weltkrieg verlagerte das Zentrum der russischen Emigration endgültig in die USA, mit einem politischen und kulturellen Schwergewicht auf New York.

Nicht nur Probleme des Wohnungs- und Arbeitsmarkts waren Hintergrund für den Rückgang der Zahl russischer Flüchtlinge in Deutschland nach 1923. Es trat eine insgesamt sehr restriktive deutsche Integrationspolitik hinzu, die sich am Verbleib der russischen Flüchtlinge in Deutschland nicht interessiert zeigte und weder rechtliche noch wirtschaftliche Integrationshilfen bot: Russische Flüchtlinge wurden höchstens geduldet, ohne dass mit der Duldung ein Rechtsanspruch auf Aufenthalt verbunden gewesen wäre. Ausweisungen blieben jederzeit möglich. Als Ausländer waren sie von der Bewilligung einer Beschäftigungsgenehmigung abhängig, die von der Arbeitsverwaltung nur dann gewährt werden konnte, wenn sich für eine bestimmte Arbeitsstelle keine deutschen Arbeitskräfte fanden. Die deutschen Arbeitsämter durften sie nicht vermitteln. Die russischen Flüchtlinge hatten deshalb kaum eine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt in Deutschland legal zu verdienen und damit die Voraussetzung zu schaffen, von Fürsorgeleistungen unabhängig zu werden und die Lagerunterkünfte zu verlassen. Der größte Teil von ihnen sah deshalb für sich in Deutschland keine Zukunft.

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Noch restriktiver war die deutsche Migrations- und Integrationspolitik gegenüber der Zuwanderung osteuropäischer Juden nach Deutschland in der Weimarer Republik. In dem halben Jahrhundert zwischen 1880 und 1929 verließen rund 3,5 Millionen Juden Ost-, Ostmittel- und Südosteu­ropa; Hauptziel waren dabei die Vereinigten Staaten (siehe hierzu auch S. 5 ff.). Deutschland blieb für ost-, ostmittel- und südosteuropäische Juden bis zum Ersten Weltkrieg ganz wesentlich nur Durchgangsstation. Zwar waren Hamburg und Bremen die wichtigsten Auswanderungshäfen für ost-, ostmittel- und südosteuropäische Juden, eine Zuwanderung in das Reich aber wollte Preußen-Deutschland mithilfe einer restriktiven „Durchwandererkontrolle“ ausgeschließen: Nur einige Zehntausend osteuropäischer­ Juden kamen zwischen 1880 und 1914 in das Reich; sie bildeten damit eine ausgesprochen kleine Gruppe unter den rund zwei Millionen ost- und ostmitteleuropä­ischen Juden, die in diesem Zeitraum über Hamburg und Bremen Europa verlassen hatten.

Im Ersten Weltkrieg erhöhte sich dann die Zahl der ost- und ostmitteleuropäischen Juden in Deutschland deutlich. Hintergrund war eine deutsche Anwerbepolitik, die angesichts des Arbeitskräftemangels im Reich rund 30000 Juden im von deutschen Truppen besetzten Teil Russisch-Polens rekrutierte.

Im April 1918 aber wurde die Rekrutierung dieser Arbeitskräfte verboten: Die antisemitisch motivierte Abwehr der Zuwanderungen ost-, ostmittel- und südosteuropäischer Juden hatte sich gegen die auf Arbeitskräfteanwerbung um jeden Preis ausgerichtete Politik durchgesetzt, welche die für die Versorgung der deutschen Kriegswirtschaft mit Arbeitskräften verantwortlichen Militärbehörden (Kriegsamt) bis dahin betrieben hatten.

In den Wirren der letzten Kriegsmonate und der ersten Nachkriegsjahre in Ostmittel- und Osteuropa scheiterte die geplante Repatriierung: Angesichts des virulenten Antisemitismus waren die ostmittel- und osteuropäische Staaten, vor allem Polen, aber auch die Tschechoslowakei, die baltischen Staaten und die Ukraine nicht bereit, jüdische Rückwanderer aus Deutschland aufzunehmen. Im Gegenteil: Es kam im Kontext der Staatenbildungen in Ost- und Ostmitteleuropa vor dem Hintergrund tief greifender wirtschaftlicher, sozialer und politischer Krisen zu schweren gewalttätigen Ausschreitungen gegen Juden. Viele von ihnen suchten den Weg über die weithin verschlossenen Grenzen nach Westen. Nach Deutschland kamen bis 1921 rund 70000 asylsuchende Juden aus Ostmittel- und Osteuropa. Jenen, die die Grenzsperre überwunden hatten, wurde zumindest in Preußen zunächst Asyl gewährt.

In Deutschland verstärkten sich in den Jahren 1919 bis 1923 antisemitische Aktivitäten exzessiv. Es kam zu offener Gewalt (Straßenkrawalle, Überfalle, Geiselnahmen) gegen ausländische Juden, und die antijüdischen Politik auf Reichs- und Länderebene verschärfte sich. In Bayern kulminierte der regierungsamtliche Antisemitismus 1923 in einer Internierungs- und Ausweisungswelle gegen­über ost-, ostmittel- und südosteuropäischen Juden. In Preußen wurde die 1919 noch großzügige Asylgewährung immer stärker eingeschränkt. Weiterwanderungen, motiviert durch antisemitische Ausschreitungen, die zunehmend restriktivere Asylpolitik und die angespannte wirtschaftliche Lage der frühen Weimarer Republik ließen die im Ersten Weltkrieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit deutlich angestiegene Zahl der ausländischen Juden rasch wieder sinken. Bei der Volkszählung 1925 wurden rund 108000 „Ostjuden“ gezählt. Damit hatte sich ihre Zahl im Vergleich zur vorangegangenen Volkszählung von 1910 nur um 30000 erhöht, obwohl rund 100000 jüdische Flüchtlinge allein zwischen 1914 und 1921 zugewandert waren. Bis zur nächsten Volkszählung 1933 sank ihre Zahl weiter um rund 10000 auf 98000.

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Ähnliche Prozesse von Weiterwanderungen wie bei den Flüchtlingen aus Russland und den ausländischen Juden in der unmittelbaren Nachkriegszeit lassen sich bei der Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach 1933 beobachten. Sie betraf politische Gegner des Regimes und solche, die das Regime dafür hielt, vor allem aber all jene, die aufgrund der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus zu geächteten Fremden in Deutschland gemacht wurden. Das galt vor allem für die Juden. Die Emigration aus dem nationalsozialistischen Deutschland verlief schubweise. Die erste Emigrationswelle konnte 1933 mit der Machtübernahme Hitlers und den ersten Maßnahmen zur Bekämpfung der innenpolitischen Gegner sowie den ersten antisemitischen Gesetzen beobachtet werden.

Die rassistischen „Nürnberger Gesetze“ von 1935 ließen die nächste Emigrationswelle folgen. Der letzte große Emigrationsschub setzte mit der offenen Gewalt gegen Juden in der „Reichspogromnacht“ vom 9. November 1938 ein. Er endete mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs, der die Emigrationsmöglichkeiten stark beschnitt, und ging nach dem Auswanderungsverbot 1941 in den Völkermord an den deutschen und europäischen Juden über.

Die Zahl der Emigranten aus Deutschland ist unbekannt. Die weitaus größte Gruppe stellten die Juden, von denen wohl etwa 280000 bis 330000 das Reich verließen. Nimmt man die jüdische Emigration aus Österreich nach dem „Anschluss“ an das Deutsche Reich 1938 (150000) und aus der Tschechoslowakei nach dem Münchner Abkommen im gleichen Jahr hinzu (33000), so beläuft sich allein die Zahl der im weitesten Sinne jüdischen Emigrierten aus dem von Deutschland beherrschten Mitteleuropa insgesamt auf 450000 bis 600000 Menschen.

Weltweit nahmen mehr als 80 Staaten Flüchtlinge aus Deutschland auf. Ziele waren für die meisten zunächst die europäischen Nachbarstaaten Deutschlands mit dem Gedanken an ein zeitweiliges Exil, verbunden mit der Hoffnung auf den baldigen Zusammenbruch des NS-Regimes und die Chance zur Rückkehr.

Die Hälfte aller jüdischen Flüchtlinge aber wanderte weiter. Mehr und mehr wuchs die Bedeutung der Verei­ni­gten Staaten als letztes Exilland und schließlich Einwanderungsland. Die Zahl der in Deutschland „Emigranten“ genannten Flüchtlinge vor dem NS-Regime in den USA wurde 1941 auf insgesamt 100000 geschätzt. Argentinien folgte mit 55000 Flüchtlingen vor Großbritannien mit 40000. Während des Zweiten Weltkrieges verschob sich das Gewicht noch weiter zugunsten der Vereinigten Staaten, die letztlich etwa die Hälfte aller Emigranten aufnahmen.

Im Vergleich zu der großen Zahl jüdischer Flüchtlinge aus Mitteleuropa blieb die Zahl der Menschen, die ihrer politischen Arbeit wegen Deutschland, Österreich und die deutschsprachigen Gebiete der Tschechoslowakei nach 1938 verließen, weitaus geringer. Sie umfasste bis 1939 etwa 25000 bis 30000 Personen, überwiegend Sozialdemokraten und Kommunisten.

Für das deutsche Exil galt: Um die politische Arbeit vom Ausland aus weiter zu betreiben, blieben die meisten geflüchteten politischen Gegner des Regimes in Europa. Frankreich, Spanien, Großbritannien und die Sowjetunion waren die wichtigsten europäischen Ziele.

Der Zweite Weltkrieg veränderte entscheidend die Möglichkeiten der politischen Einflussnahme aus dem Ausland und nötigte viele Mitglieder des politischen Exils zur erneuten Flucht oder ließ sie am Ende doch in die Hände der Nationalsozialisten fallen.

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1.5 Flucht, Vertreibung und Emigration als Massenphänomene

1.6 Flucht, Deportation und Zwangsarbeit im Zweiten Weltkrieg

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