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Klaus J. Bade, Jochen Oltmer, Normalfall Migration: Texte zur Einwandererbevölkerung und neue Zuwanderung im vereinigten Deutschland seit 1990, Bundeszentrale für Politische Bildung bpb 2004

Ausreisemotive bei Aussiedlern

„Seitdem sich die Zahl der Aussiedler in starkem Maße erhöht hat, wird in der Bundesrepublik immer häufiger die Frage gestellt, aus welchen Gründen diese Personengruppe ihre vormalige Heimat verläßt. Dabei wird oft die Meinung vertreten, daß die Aussiedler aus Osteuropa und aus der Sowjetunion in hohem Maße aufgrund der wirtschaftlichen Situation in die Bundesrepublik Deutschland strebten.

Für die Rußlanddeutschen hat der Prozeß der Ausreiseentscheidung in den meisten Fällen jedoch einen sehr viel komplexeren Hintergrund. [...] Die Befragung von rußlanddeutschen Aussiedlern und die Interviews mit Deutschen in der Sowjetunion geben einige Hinweise auf die Struktur der Ausreisemotive. Dabei zeigt sich, daß die Ausreisegründe nicht nur von der Generationszugehörigkeit abhängen, sondern auch von der Zeit, in der die Emigrationsentscheidung getroffen wurde.

Bei den 1985/86 interviewten Aussiedlern standen ethnische Motive als Begründung für die Ausreise an erster Stelle. Am häufigsten wurden Formulierungen wie ‚wir wollen als Deutsche unter Deutschen leben’ sowie ‚wir möchten unsere Muttersprache und Kultur nicht verlieren’ verwendet. Im Gegensatz dazu gaben die Interviewpartner in den Jahren 1989/90 die Familienzusammenführung als wichtigstes Ausreisemotiv an. Diese Veränderung deutete auf die Sogwirkung hin, die von den bereits ausgereisten Rußlanddeutschen ausging und stand im Zusammenhang mit den Ausreiseerleichterungen am Ende der Achtzigerjahre. Wirtschaftliche Motive, wie zum Beispiel der Wunsch nach einem höheren Einkommen, rangierten bei den Befragten am Ende der Achtzigerjahre vor politischen Gründen an dritter (vorletzter) Stelle, während sie bei den Interviewten zu Beginn der Achtzigerjahre so gut wie keine Rolle gespielt hatten. Für diese Entwicklung dürfte hauptsächlich die wirtschaftliche Krise in der Sowjetunion am Ende der Achtzigerjahre verantwortlich gewesen sein.

Bei einer Schichtung der Befragten nach der Generationszugehörigkeit verschob sich die Struktur der Ausreisemotive geringfügig. Für die jüngeren Aussiedler hatten wirtschaftliche und politische Gründe ein etwas höheres Gewicht als für die älteren, die am häufigsten ethnische Motive nannten. [...]

Die 1991 durchgeführte Befragung von Deutschen, die zu diesem Zeitpunkt in der Sowjetunion lebten, ergab eine stärker ökonomisch begründete Sichtweise der Ausreisemotive. [...] Auf die Frage ‚was ist Ihrer Meinung nach der Hauptgrund dafür, daß die Rußlanddeutschen nach Deutschland ausreisen’ wurde insgesamt am häufigsten der Wunsch der Aussiedler nach einer Verbesserung der Lebens- und Wohnverhältnisse genannt (63,8 Prozent). Die zweite und dritte Stelle unter den Nennungen nahm die Begründung ein, daß es keine Hoffnung mehr auf eine völlige Wiederherstellung der nationalen Rechte der Deutschen in der Sowjetunion gebe (42,9 Prozent) und daß die Kinder in einer deutschen Umgebung aufwachsen sollten (42,5 Prozent). Große Bedeutung wurde zudem der wirtschaftlichen und politischen Krise und einem möglicherweise drohenden Bürgerkrieg in der UdSSR zugeschrieben (37,9 Prozent) sowie dem Wunsch, in einem freien Land zu leben (35,8 Prozent). Nur wenige unter den 1991 in der Sowjetunion interviewten Deutschen (15 Prozent) gaben nur einen einzigen Ausreisegrund an. Die meisten hielten mehrere Motive für ausschlag­gebend, um das Land zu verlassen. Dabei wurden fast immer wirtschaftliche, ethnische und politische Grün­­de gleichzeitig genannt.“

Quelle: Barbara Dietz, Zwischen Anpassung und Autonomie. Rußlanddeutsche in der vormaligen Sowjetunion und in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1995, S. 105–107.

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