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Handreichung zur Kompetenzbilanz

(Leitfaden für MultiplikatorInnen)

1 Hintergrund

2 Einige Vorschläge im Umgang mit der Kompetenz Bilanz

1 Hintergrund

In der Debatte um Migration und Integration und in der sozialen und selbstorganisieren Arbeit von und für Migrant/innen hat sich die Zielvorstellung der ressourcenorientierten Arbeit in den letzten Jahren immer mehr durchgesetzt. Das markiert ein Umdenken weg vom immer noch häufig anzutreffende Denken von Defiziten, Hilfsbedürftigkeit und Gefährdungen her.

Bis heute ist aber in der Praxis häufig nicht recht klar geworden: Wie setzt man Ressourcenorientierung um, was bedeutet sie in der Praxis?

Bei der hier vorliegenden Kompetenzbilanz handelt es sich um eine Arbeitsmethode, Ressourcenorientierung in der Praxis umzusetzen. (Es handelt sich hierbei um eine Weiterentwicklung und Ausdifferenzierung eines in der Abteilung Familie/Familienpolitik des DJI entwickelten Instrumentes auf die Zielgruppe der MigrantInnen.)

Ausgangspunkt für die Entwicklung der Kompetenzbilanz waren Erfahrungen in dem Forschungsprojekt: „Der soziale Nahraum in seiner Integrationsfunktion für Familien ausländischer Herkunft“, aus dem heraus die hier vorgelegte Kompetenzbilanz entwickelt wurde. (Das Projekt fand vom Juli 2001 bis Dezember 2002 mit räumlicher Begrenzung auf Bayern statt und diente der Entwicklung von innovativen Ansätzen in der Familienbildung. Es wurde vom Bayerischen Sozialministerium gefördert.) In zahlreichen eindrucksvollen Passagen schilderten in qualitativen Interviews unsere Gesprächspartner, Frauen und Männer mit ganz unterschiedlichen Biographien, wie sie ihre Erwerbsarbeit in Deutschland als Sackgasse erleben, aus der es für sie aus Gründen des ökonomischen Überlebens kein Entrinnen gibt. Aber ihre Fähigkeiten, ihre Interessen, oft auch ihre durchaus vorhandenen weitreichenden formalen Berufsqualifikationen, die nur hierzulande nicht anerkannt werden, können sie in Deutschland nicht einbringen.

Notgedrungen lernen es die Betroffenen, sich auf die eine oder andere Weise mit dem Leben in einer solchen Sackgasse zu arrangieren. Aber sie bleiben dabei häufig weit unter ihren biographischen Möglichkeiten, schöpfen auch aus ihrer persönlichen und familialen Sicht ihren Kompetenzrahmen und ihre ökonomischen Chancen nicht aus, und können für ihre Kinder nicht den sozialen, Bildungs- und ökonomischen Lebensrahmen bieten, den sie eigentlich anstreben.

Aber auch aus der Sicht der Aufnahmegesellschaft ist ein solcher Sackgassen produzierender Umgang mit den Biographien von Zuwanderten ein Negativposten. Wenn die Zuwanderer/innen samt ihren mitgebrachten Fähigkeiten, Erfahrungen und Handlungsmotiven gesellschaftlich stärker zum Tragen kommen sollen, dann sind dafür Instrumente zur Identifizierung, zur Wertschätzung und Bewertung, zur Zertifizierung und schließlich zum gesellschaftlichen Transfer ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten in praktische Anwendungsfelder hier in Deutschland notwendig, im und jenseits des formalen Arbeitsmarkts.

Der Transport von Fähigkeiten und Wissensbeständen in gesellschaftlich anerkannte Handlungskompetenz muß durch Angebote des gemeinsamen Nachdenkens über mögliche Nutzungen der dargestellten und überdachten Fähigkeiten ermöglicht werden. Ohne solche Reflexions- und Dialogangebote und -möglichkeiten bleiben mitgebrachte Ressourcen von Migrant/innen unzugängliche, für die Aufnahmegesellschaft unerreichbar vergrabene Schätze.

Aus Fähigkeiten und Erfahrungen werden Kompetenzen, wenn ein Reflexionsrahmen hergestellt wird, in dem Menschen ihre biographischen Erfahrungen und Lernfelder überdenken und sich ihre Kompetenzen bewußt aneignen können. Hierzu braucht es den Schritt, sich die eigenen Tätigkeitsfelder und Lernräume zu vergegenwärtigen und ihre Ergebnisse und Nutzungsmöglichkeiten abzuschätzen.

Bei der Kompetenzbilanz zur Arbeit mit MigrantInnen handelt es sich um ein Instrument, das in der Beratungsarbeit, in Orientierungs- und Sprachkursen, sowie in gesonderten Veranstaltungsreihen eingesetzt werden kann.

Die Initiativen, Projekte und Institutionen, die mit ihr arbeiten, übernehmen mit ihrer begleitenden Rolle bei der Arbeit mit der Kompetenzbilanz eine Verantwortung dafür, daß die im Verlauf der Arbeit gewonnenen Einschätzungen, aber auch geweckte Erwartungen einer Art „Realitäts-Check“ unterworfen werden. Nicht alle Träume z.B. von einer selbständigen Handwerksfirma oder einer Laufbahn vom Hauptschüler zum Arzt lassen sich aufgrund intensiver Beschäftigung mit den eigenen Fähigkeiten auch verwirklichen. Das bedeutet nicht, daß die Multiplikatoren für die Arbeit mit der Kompetenzbilanz die Rolle übernehmen müßten, die massive Abwehrfront, die deutsche rechtliche und gesellschaftliche (Spiel)regeln gegenüber einer Anerkennung der Kompetenzen von Zugewanderten errichten, zu verstärken oder zu legitimieren.

Vielmehr ist die Perspektive der breiten Anwendung der Kompetenzbilanz so angelegt, daß daraus provokative und innovative Impulse für das System der Institutionen in Deutschland ausgehen sollen, mit den Fähigkeiten, Interessen und dem lebendigen Potential der Zugewanderten in Zukunft nicht mehr abwertend-eindämmend, sondern pfleglich, anerkennend, wertschätzend und fördernd umzugehen - z.B. durch die Öffnung von Wegen in anerkannte Berufe, die bisherige Lebensleistung und Berufspraxis berücksichtigen aber auch durch die Entwicklung neuer gesellschaftlicher Anwendungsfelder, vor allem im sozialen Nahraum. Hier ist die Aufnahmegesellschaft mit einer aktivierenden und innovativen Zukunftsgestaltung gefragt.

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2 Einige Vorschläge im Umgang mit der Kompetenz Bilanz

2.1 Die Kompetenzbilanz läßt sich in der Migrantenarbeit in vielfältigen Zusammenhängen einsetzen

Bei der Kompetenzbilanz handelt es sich um ein vielseitig einsetzbares Instrument. Zu den Anwendungsbereichen gehören z.B. Beratungseinrichtungen, Orientierungskurse, Stadtteilinitiativen, Mütter- und Familientreffs, Elternarbeit an Kindergarten und Schule, sowie Sprachkurse in unterschiedlichen Settings.

2.2 Die Kompetenzbilanz läßt sich einzeln oder auch in Gruppen einsetzen

In einer ersten Phase zur Sammlung der Lebenserfahrungen haben sich Gruppen als sehr hilfreich erwiesen, da einzelnen Teilnehmerinnen eigene Erfahrungen und Kompetenzen deutlich werden, wenn sie hören, was andere zu berichten haben.

Die Einzelarbeit eignet sich bei der vertiefenden Analyse der Fähigkeiten, der Möglichkeiten des Nachweises, der Zusammenstellung des persönlichen “Portfolios“ sowie der Perspektiven der individuellen Umsetzung.

Vielfach wird es sich als sinnvoll erweisen, eine Mischung aus Gruppen- und Einzelarbeit anzubieten.

2.3 Für die Kompetenzbilanz braucht es mehrere Sitzungen

Der Umfang der Kompetenzbilanz erfordert mehrere Sitzungen. Dies ist auch deswegen zu empfehlen, damit die TeilnehmerInnen zwischenzeitlich über ihre Erfahrungen weiter reflektieren, bzw. sich mit anderen austauschen können und damit sie Zeit haben, Nachweise und Dokumente zu besorgen. Und damit auch die Kurs- und Programmleiterin Gelegenheit haben, Gespräche und Interviews nachzuarbeiten und den Teilnehmer/innen zurückzuspiegeln, was bereits erarbeitet wurde.

Je nach Gruppe und Intensität der Arbeit sollten 4 - 10 Sitzungen eingeplant werden.

2.4 Die Reihenfolge der Fragen kann dem Gesprächsfluß entsprechend und zielgruppenspezifisch modifiziert werden

Wichtig ist es dem Gesprächsfluß zu folgen und die Reihenfolge der gestellten Fragen diesem anzupassen. Bei manchen Gruppen (z.B. bei Flüchtlingen) ist es nicht so günstig gleich am Anfang ausführliche biographische Fragen zu stellen. Bei Frauen werden meist andere informellen Lebensbereiche im Vordergrund stehen als bei Männern etc.

2.5 Die Teilnahme an der Kompetenzbilanz ist freiwillig

Wichtig ist es stets darauf hinzuweisen, daß alle Auskünfte und Antworten freiwillig erfolgen und die TeilnehmerInnen jederzeit die Freiheit haben, auf eine Frage nicht zu antworten, oder später zu antworten.

2.6 Die Kompetenzbilanz kann als direktes und auch als indirektes Curriculum Anwendung finden

Bei der Kompetenzbilanz handelt es sich um ein Instrument, das sowohl direkt als auch als Struktur, mit der die laufende Arbeit begleitet wird, einsetzbar ist. Als direktes Curriculum wird die Kompetenzbilanz gemeinsam mit den Teilnehmern von Veranstaltungen, Kursen, oder Beratungsgesprächen ausgefüllt werden. Sie kann aber auch in der Beratungs-, in der Eltern- und Familienarbeit oder auch in Sprach- und Orientierungskursen als „Hidden Curriculum“ zur Orientierung für die Prozeßbegleitung von Kurs- und ProgramleiterInnen dienen.

2.7 Hilfreich ist es, wenn Kurs- und ProgrammleiterInnen bevor sie mit dem Instrument arbeiten den Fragebogen selber an Hand der eigenen Biographie ausfüllen

Dies dient dazu, sich das Instrument gut anzueignen, sowie ein Gefühl für den Stellenwert und die Reichweite der einzelnen Fragenkomplexe und Themenbereiche zu bekommen.

2.8 Es erscheint sinnvoll, den Einsatz der Kompetenzbilanz den biographischen Migrationsphasen anzupassen

Migranten durchlaufen verschiedene Phasen in ihrer Zuwanderungsbiographie. Die Kompetenzbilanz läßt sich in der Zeit nach der Zuwanderung, in der oft von hohen Motivationen ausgegangen werden kann einsetzen, aber auch bei schon seit länger hier lebenden Migranten. Dies gilt sowohl für Migranten, die schon viel erreicht haben, z.B. bei ausländischen Geschäftsleuten zur Qualifizierung als Ausbildungsbetriebe, als auch bei Migranten, die in Deutschland vor großen Hindernissen stehen, z.B. bei hier aufgewachsenen Jugendlichen, die keinen Ausbildungsplatz finden.

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2.9 Die Reihenfolge der Fragen sollte zielgruppen spezifisch abgewandelt werden

Die Gruppe der in Deutschland lebenden Migranten weist eine große Vielfalt auf. Dies sollte sich in einer zielgruppenspezifischen Flexibilität der Anwendung der Kompetenzbilanz auch niederschlagen. Bei Flüchtlingen beispielsweise, für die Befragungen über ihre Biographie und ihre Herkunft ein intensives Vertrauensverhältnis voraussetzen, kann es sinnvoll sein, diesen Teil der Kompetenzbilanz am Anfang abzukürzen und erst in späteren Sitzungen zu vertiefen. Bei Frauen wird die Reihenfolge der gestellten Fragen zu den Kompetenzen aus informellen Bereichen anders ausschauen als bei Männern etc.

Hier sollte das vorgegebene Schema flexibel angewandt werden. Wichtig bleibt jedoch, daß am Schluß alle Fragen abgearbeitet worden sind.

2.10 Die Kompetenzbilanz läßt sich in deutsch und auch in der Übersetzung in andere Sprachen einsetzen

Dabei kann die Übersetzung auch mündlich während des Dialogs und der gemeinsamen Reflexion erfolgen. Soll das Portfolio zur Bewerbung in Deutschland eingesetzt werden, dann ist es sinnvoll, daß es in deutsch erstellt wird. Soll es bei Rückwanderungen für Bewerbungen im Herkunftsland dienen, dann erscheint die Heimatsprache angemessen.

2.11 Die Kompetenzbilanz sollte sowohl von den Teilnehmerinnen selber ausgefüllt werden, als auch mit den Kursleiterinnen gemeinsam erfolgen

Auch hier sollte mit beiden Arbeitsformen, der eigenständigen Einzelarbeit, sowie des begleitenden Dialogs gearbeitet werden, um sowohl aktivierende und unterstützende Elemente einzubeziehen, als auch die Transparenz und Identifizierung mit dem Prozeß und den Ergebnissen zu fördern, und schließlich den Prozeß der Erstellung der Kompetenzbilanz auch als eine Kompetenz fördernde und qualifizierende Maßnahme nutzen zu können.

Fragen in Form eines Interviews gestellt zu bekommen fördert eröffnet Denkräume und Perspektiven. Sich daheim die Fragen noch einmal anzuschauen kann die Selbstreflexion vertiefen.

Die TeilnehmerInnen sollten daher den Kompetenzbogen als Unterlage selber erhalten, das Durchgehen der einzelnen Teile sollte gemeinsam mit der Kursleitung geschehen.

Soweit wie möglich sollte das eigenständige Zusammenstellen des Portfolios gefördert werden.

2.12 Wie sieht ein schönes Portfolio aus?

Hier gibt es viele kreative Möglichkeiten. Es sollte nicht an Experimentierfreudigkeit und an gestalterischem Elan gespart werden. Ein Portfolio sollte auf alle Fälle Produkte aus allen vier Teilen der Kompetenzbilanz enthalten. Der Lebenslauf, eine Kompetenzübersicht, visuelle Elemente sowie Dokumentationen und Nachweise sollten nicht fehlen.

2.13 Bei der Anwendung und Umsetzung der Kompetenzbilanz sind vor allem Sie als Kurs- und Programmleiter/In gefragt

Der vierte Teil der Kompetenzbilanz, bei dem es um die Zukunftspläne, um einen Realitätscheck und um die Eröffnung von Anwendungsfeldern geht, erfordert fundierte Kenntnisse und Einsichten in das deutsche System und den Gegebenheiten vor Ort . Hier ist auch kreatives und innovatives Denken gefragt, hier müssen Vorschläge entwickelt, Kontakte und Beziehungen mobilisiert und eingesetzt werden, um auch neue Perspektiven und Anwendungsfelder zu entwickeln. Hier sind viele direkte Gespräche mit Partnern aus der Wirtschaft, von Arbeitsvermittlungsstellen und aus der Arbeitsverwaltung, sowie aus Einrichtungen des sozialen Nahraums nötig. Bei der Kompetenzbilanz handelt es sich um ein innovatives Instrument, das in die gegebenen Strukturen vor Ort eingeflochten werden muß. Zur Umsetzung gehört daher auch Öffentlichkeits- und Lobbyarbeit.

2.14 Sich in der Arbeit mit der Kompetenzbilanz vernetzen

Aufgrund seiner innovativen Dimension wird es wichtig sein, sich bei der Arbeit mit der Kompetenzbilanz mit anderen Trägern, Partnern und Multiplikatoren auszutauschen und zu vernetzen.

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