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Interkultureller Unterricht in der Zweitsprache Deutsch

Rolf Schmidt

Im Folgenden sollen einige Anmerkungen zu Fragen der (Zweit-) Sprache, der Interkulturalität und des Unterrichts gemacht werden. Diese Anmerkungen erheben nicht den Anspruch, die Problematik in aller Differenziertheit dar zu legen. Es soll dennoch versucht werden, stichpunktartig auf Aspekte dieses Themas einzugehen, die nach Auffassung des Verfassers dazu geeignet sind, für Fragen des Zweitsprachenunterrichts zu sensibilisieren.

Will man einen interkulturellen Unterricht in der Zweitsprache Deutsch durchführen, also einen einsprachigen Unterricht unter mehrsprachigen, inter kulturellen Bedingungen, sollte man sich der Komplexität dieses Gegenstandes bewusst sein. Die Durchführung eines derartigen Unterrichts stellt an Lehrende hohe Anforderungen. Neben der Sensibilität, die sie für die Individualität, die Kultur und den (sprach-) biographischen Hintergrund der Lernenden aufbringen müssen, erfordert ein solcher Unterricht ebenso ein hohes Maß an Sensibilität für die Sprache der Lehrenden selbst als eine für die Lernenden fremde Sprache.

Diese Ausführungen beschäftigen sich deshalb besonders mit Überlegungen zu der zu lernenden Sprache. Es soll hier versucht werden, ausgewählte Aspekte der Zweitsprache zu skizzieren, um auf die Vielschichtigkeit und Komplexität des Zweitsprachenlernens und damit auf die Situation, in der sich Zweitsprachenlernende in einem Zweitsprachenunterricht befinden, hinzuweisen. Ein kurzes Gedicht von Gino Chiellino soll an den Anfang gestellt werden. Dieses Gedicht trägt den (bezeichnenden!) Titel

Sklavensprache

mit mir willst

du reden

und

ich

soll

deine Sprache

sprechen

zit. nach Ackermann, Irmgard (Hrsg.): In zwei Sprachen leben. Berichte, Erzählungen, Gedichte von Ausländern. dtv: München 1992, S. 164

Vieles von dem, was Menschen erleben und fühlen, wenn sie in einer ihnen fremden Welt mit einer ihnen fremden Sprache in Berührung kommen, spricht aus diesen Versen. Diese Menschen kommen als Individuen mit ihrer eigenen kulturellen (Sprach-)Identität und finden sich in einer Welt, in der von ihnen erwartet wird, dass sie das Fremde dieser Welt – und insbesondere die fremde Sprache, d. h. den Ausdruck einer ihnen zum Teil unbekannten kulturellen Identität –

lernen sollen. Sie hören diese Sprache, sollen in ihr sprechen, lesen und schreiben, sie sollen sie verstehen, sollen sie beherrschen … und finden sich in der Situation, von dieser unbekannten Sprache in der Fremde beherrscht zu werden. Diese Sprache bestimmt ihre Lebens-, Arbeits- und Lernzusammenhänge. Überall fordert sie von ihnen, ihr eigenes Denken, Fühlen und Sprechen in eine neue (sprachliche) Form zu kleiden. Sie sind gezwungen, dem, was sie hier erleben, einen fremden Ausdruck zu geben. Ihr Eigenes, mit dem sie dieses erleben, findet (sprachlich) keinen eigenen Ausdruck.

Begegnung des Eigenen mit dem Fremden

Interkultureller Unterricht ist immer die Begegnung mindestens zweier Kulturen. Diese Begegnung ist dadurch gekennzeichnet, dass Subjekte mit ihren Gedanken, ihren Emotionen, ihren Erfahrungen, ihren Wertvorstellungen, ihren Hoffnungen und Ängsten, mit anderen Worten mit ihren Identitäten aufeinander treffen. Und all diese Realitäten der Individuen sind in ihnen auch „versprachlichte Realitäten“, d. h. Individuen, deren Heimat nicht die hiesige ist, befinden sich sowohl gedanklich, emotional und sprachlich in der Fremde. Zugleich heißt dies, dass diejenigen, deren Heimat die hiesige ist, wahrnehmen, dass eigene Emotionen, Erfahrungen, Gedanken, und Wertvorstellungen abweichen können. In der interkulturellen Begegnung treffen mindestens zwei „kulturelle Identitäten“ aufeinander: Die bisherigen Vertrautheiten haben keine Gültigkeit mehr, es kommt zu Missverständnissen, zum Nichtverstehen und nicht selten auch zu Konflikten. Im Unterricht auftretende „Sprachbarrieren“ sind also nicht nur Barrieren der Sprache. Sprache ist weit mehr als sprechen, hören, lesen, schreiben; Sprache ist Ausdruck individueller und kultureller Identität – mit ihr und durch sie sind wir mit uns vertraut, denn in ihr fühlen, denken, erfahren, erinnern, hoffen und träumen wir.

Lehren und Lernen im Dialog

Die Aufgabe, vor der Lehrende und Ausbildende im Unterricht und in der Praxis stehen, besteht darin, dem fremdkulturellen Lernenden das ihm (sprachlich) Fremde auf eine Weise zu vermitteln, dass er dieses versteht und anwendet, ohne dass dabei seine eigenkulturelle Identität ausgeblendet wird. Diese Aufgabe kann m.E. nur bewältigt werden, wenn das Lehren und Lernen im Bewusstsein eines „Dialogs“ stattfindet, eines Dialogs unterschiedlicher sprachlich-kultureller

Wahrnehmungen und unterschiedlichen sprachlich-kulturellen Verstehens. Um deutsche Sprache und Kultur verstehend wahrnehmen zu können, muss der Lehr- und Lernprozess das je Fremde wie das je Eigene stets im Blick haben.

Für Überlegungen zum Zweitsprachenlernen ließe sich daraus folgern, dass sämtliche unterrichtlichen oder praxisorientierten Lern- und Arbeitszusam-menhänge in einen (zweit-) sprachigen, interkulturellen Zusammenhang eingebettet sind. Dieser wird davon bestimmt, dass die Wahrnehmung, das Verstehen und die Vermittlung von Gegebenheiten und Situationen immer einen Dialog von Fremdem und Eigenem darstellt. Allerdings ist dieser Dialog ein Dialog unter ungleichen Bedingungen: Lehrende und Ausbildende haben die Macht, sie sind auf heimatlichem Terrain. Sie bestimmen die Sprache, präsentieren die Werte, bieten die Arbeits- und Lebensbedingungen, stellen die Fragen und geben die Antworten, sie unterrichten, bewerten, korrigieren, präsentieren die Texte in unserer Sprache, lehren unsere Grammatik, geben den Dingen dieser, unserer Welt unsere Bezeichnungen.

Im Unterricht nimmt die für die Lernenden z.T. neue, ungewohnte Welt (und dies geschieht oftmals unter sehr ungünstigen Lernbedingungen) eine einzige Form an: die deutsche Sprache als Zweitsprache; und die erscheint als Klang, als Norm, als Bild, als Text, als Konvention, als Grammatik, als Wortschatz, als Fragen, als Antworten, als Darstellungen, als Übung, als Aufforderungen, als Gestik und Mimik – als all das, was ich am liebsten in meiner eigenen Sprache erleben würde! Und diese Zweitsprache Deutsch muss ich sprechen, obwohl ich mich in meiner Familiensprache oder Muttersprache viel besser artikulieren kann; ich muss sie hören, obwohl ich ganz andere Klänge gewohnt bin; ich muss sie lesen, obwohl ich die Wörter und Sätze und deren Bedeutungen kaum erkennen kann; ich muss sie schreiben, obwohl ich ihre Schrift und ihre Regeln kaum beherrsche: ich muss die Dinge der Welt mit den neuen Wörtern und Bedeutungen dieser Sprache benennen, obwohl meine Welt ganz anders klingt.

Verschiedene „Sprachen“

Die Forderungen, die der Unterricht an die Lernenden stellt, konkretisieren sich während des Lernprozesses immer in den unterschiedlichsten Formen, den verschieden ausgeprägten „Sprachen“ der (Zweit-)Sprache. Entsprechend dem Gegenstand des Unterrichts oder der Praxis werden von den Lernenden beispielsweise Beschreibungen, Erklärungen und Definitionen erwartet; es sollen Lese- und Schreibübungen an Texten oder an freien bzw. vorgegebenen Texten realisiert oder es soll gar ein Referat, eine Bewerbung, ein Bericht oder ein Lebenslauf geschrieben werden. Es soll ein bestimmter (Fach-)Wortschatz gelernt, grammatische Übungen sollen durchgeführt werden; Fragen sollen beantwortet, Antworten sollen gegeben werden; Gespräche, Debatten und Diskussionen sollen geführt, Anleitungen und Aufgaben sollen verstanden werden.

In jedem dieser Zusammenhänge erscheint die (Zweit-)Sprache in ihren unterschiedlichen Formen, nämlich als Fachsprache, als Unterrichtssprache, als grammatische Sprache, als literarische Sprache, als Alltagssprache, als Sprache der Gestik und Mimik, als ein Schriftsystem und als ein phonetisches System. Und alle diese Formen repräsentieren jeweils einen speziellen Ausdruck der hiesigen Gesellschaft und Kultur, des hiesigen Denkens und Fühlens. Eine (Zweit-)Sprache lernen (und lehren) beinhaltet somit auch immer das Lernen (und Lehren) unterschiedlicher Perspektiven, mit der diese Sprache die Welt betrachtet und erklärt. Der Dialog, von dem oben gesprochen wurde, findet nicht nur auf einer allgemeinen Begegnung mindestens zweier Individuen, zweier Sprachen und Kulturen statt. Er ist im Unterricht und in der Praxis auch immer ein Dialog des jeweils Speziellen und damit oftmals Verschiedenen innerhalb der Kulturen, des Wahrnehmens und Denkens. Und in diesem je Besonderen, dieser je speziellen „Sprache“, erscheint die Welt auch als eine anders differenzierte Welt. Unterschiede und Gemeinsamkeiten, Eigenes und Fremdes treffen sich hier in diesen konkreten Formen der Zweitsprache. Hierin offenbaren und treffen sich Regeln, Normen und Moral. In den Begriffen und Bedeutungen dieser Sprachen begegnen sich die verschiedenen Welten und in diesen Sprachen verstehen wir uns, missverstehen wir uns oder verstehen uns gar nicht.

Sprache „verdichtet“ Kultur

Jede dieser „Sprachen“, dieser besonderen, konkreten Ausdrucksformen der (Zweit-)Sprache, lässt sich als eine Art „Verdichtung“ des Allgemeinen durch ein jeweils Spezielles betrachten: Die grammatische Struktur von Sätzen, die Zusammensetzung von Wörtern, die besondere Struktur und Form eines Textes – all das ist Ausdruck der (Zweitsprachen-)Kultur. Das, was beispielsweise ein grammatisches Phänomen in seiner Regelhaftigkeit zeigt, ist möglicherweise nicht nur die Tatsache, dass eine Regel existiert. Nicht selten drückt sich in dieser Regel zudem ein Aspekt des „Typischen“ oder „Besonderen“ der (Zweitsprachen-)Kultur aus. In deutschen Landen wird „ein Akkusativ-Objekt“ geheiratet (Sie heiratet ihn / Er heiratet sie); in anderen Landen wird unter Umständen gemeinsam geheiratet, denn dort heißt es: Sie heiratet mit ihm / Er heiratet mit ihr. Selbstverständlich repräsentiert nicht jede Grammatikregel zugleich und immer alles

Leben einer (Zweitsprachen-)Kultur. Doch zumindest lässt sich festhalten, dass eine grammatische Regel – neben ihrer Notwendigkeit, der (Zweit-)Sprache eine verbindliche Form zu geben – Ausdruck von dem sein könnte, wodurch sie „zur Regel“ wurde.

Das folgende Gedicht von Inge Meidinger-Geise mag das Verhältnis zwischen grammatikalischer Regelhaftigkeit und ihren Grenzen verdeutlichen:

Lehre

Grammatik

Heißt das ordentliche

Laufen der Wörter

Der Reihe nach

Dem Sinne nach

Dem Satze nach

Dem Sprechen nach

Heißt Grammatik

Das Bravsein der Wörter

Den Regeln nach

Der Erwartung nach

Dem Mutmaßen nach

Laufen die Wörter

Schließlich

Über

Die Grammatik

Hinaus

zit. nach Wiemer, Rudolf Otto (Hrsg.): BUNDES deutsch.Lyrik zur Sache Grammatik. Hammer: Wuppertal 1974, S. 30

Nimmt man einzelne Wörter und nicht eine grammatische Struktur in den Blick, wird auf eine weitere Weise augenfällig, dass Sprache mehr ist als eine Ansammlung von Buchstaben. Nicht nur erscheint ein Wort in seiner typischen Zusammensetzung, sondern es erscheint dadurch zugleich in seiner (auch: kulturellen) Bedeutung. Es ist schon ein Unterschied, ob ein Mensch etwas bespricht oder ob er etwas verspricht. Und es ist ein Unterschied, ob in der (Zweit-)Sprache Deutsch die Vorsilbe ver- oder be- verwendet wird. Die Bedeutungen dieser Vorsilben und auch die Wörter selbst lassen sich als Wortschatz durch situationsbezogene Übungen lernen und auch anwenden lernen. Dass aber Handlungen wie „Besprechen“ oder „Versprechen“ kulturelle Dimensionen haben könnten, ist allein aus ihrer Zusammensetzung heraus nicht erkennbar. Eventuell gilt das Besprechen von zum Beispiel familiären Problemen in der einen Kultur als etwas, was keineswegs zu den üblichen Alltagshandlungen zählt: Es wird dort nichts besprochen – es wird dort bestimmt. Und eventuell hat ein mündlich gegebenes Versprechen in einer Kultur eine besonders hohe Verbindlichkeit, von der sich Menschen aus einer anderen Kultur keinerlei Vorstellungen machen können. Hinter der Grammatik und hinter Wörtern steht immer auch etwas von dem Leben, dem Denken, der Kultur.

Noch augenfälliger als bei den oben genannten Wortbeispielen wird das (Inter-)Kulturelle bei Wörtern wie zum Beispiel Familie, Frau und Mann, Haus und Wohnung, Essen und Trinken, Freunde und Gäste, Baum und Wald, Arbeit und Freizeit, Gott und die Welt, Messer und Gabel, Säge und Hammer. Diese Wörter lösen bei LeserInnen ganze Erfahrungs- und Erinnerungswelten aus. Je nachdem, was erlebt bzw. nicht erlebt wurde, je nachdem, wie diese Wörter kulturell besetzt sind, „sprechen“ sie zum Lesenden. In diesen Wörtern „lebt“ „verdichtet“ sowohl die Kultur des Fremden wie auch die des Eigenen. Zwischen ihnen und dem Lesenden vollzieht sich beim Lesen immer ein gleichsam „unsichtbarer“ Dialog. Diesen zu einem „sichtbaren“ zu machen, Familie, Essen und Hammer erlebbar zu machen, also das zu erkennen versuchen, worauf sich die im Wort „verdichteten“ Dimensionen des Eigenen und des Fremden beziehen (lassen), sollte im Zweitsprachunterricht (für die Lehrenden) ein zentrales Anliegen sein. Durch den Vergleich von (kulturellen) „Gegebenheiten“ wird sowohl Eigenes wie Fremdes sichtbar und kann in seiner jeweiligen Eigenart bzw. in seinen unterschiedlichen (oftmals sehr differenzierten) Ausprägungen und je kulturellen Gültigkeiten bestehen bleiben. Ein Baum ist nicht nur ein Baum oder ein Baum und ein Hammer nicht nur ein Hammer oder ein Hammer. In interkulturellen (Dialog-)Übungen ließen sich diese Erkenntnisse berücksichtigen, damit sie Lehrenden wie Lernenden erfahrbar gemacht werden können.

Das Wahrnehmen des für die Zweitsprache „Typischen“ ist ja letztlich das, was über den interkulturellen Dialog im Unterricht vermittelt werden soll. Die Zweitsprache Deutsch soll für die Lernenden in ihrer Gültigkeit für die Kultur Deutschlands verstehbar und verwendbar werden. Wenn also Lehrende sich diesem Dialog, der auf sprachlicher wie auf kultureller Ebene durchgängig geführt wird, öffnen, dann werden nicht nur die Lernenden in ihrer je individuellen Identität, nicht nur deren Kultur in deren Besonderheit wahrgenommen und einbezogen; dann wird auch ein Weg eröffnet, sich dem sprachlich wie kulturell Besonderen dieser (Sprach-)Welt anzunähern, um es kennen zu lernen bzw. um es kennen lernen zu wollen.

Sprache als Text

Die Zweitsprache Deutsch begegnet den Lernenden im Unterricht (und selbstverständlich auch in ihrem sonstigen Alltagsleben) häufig in Form von Texten. (Auf sämtliche textliche Ausdrucksfor-men und Textsorten, seien sie mündlicher oder schriftlicher Art, kann hier nicht eingegangen werden. Die Ausführungen beschränken sich deshalb auf eher grundsätzliche Überlegungen zur Frage der Interkulturalität von Texten). Texte – seien sie gesprochen, gedruckt, handgeschrieben oder auf einem Bildschirm sichtbar – sind in unserer Gesellschaft all gegenwärtig. Ohne Texte ist eine gesellschaftliche, d.h. immer auch eine (inter-)kulturelle Kommunikation nicht denkbar. Nicht zuletzt deshalb stellen Texte im Unterricht eine wichtige und notwendige Grundlage dafür dar, sich mit den unterschiedlichsten Themen aus dem Leben einer Gesellschaft auseinander zu

setzen. Sich im Unterricht mit dem Thema „Texte“ zu beschäftigen, heißt unter anderem über solche Probleme zu reflektieren, die mit dem Hör- und Leseverstehen und dem mündlichen wie schriftlichen Ausdruck in Zusammenhang stehen. Es heißt auch, über Unterrichtsthemen

und Unterrichtsziele sowie über die Gründe der Auswahl und des Einsatzes von Texten für den Unterricht nachzudenken. Textarbeit ist immer auch Spracharbeit – und Text arbeit ist im Zweitsprachenunterricht auch immer interkulturelle Spracharbeit. Besonders während der Textarbeit sind Lehrende und Lernende häufig mit den Problemen des Verstehens, des Missverstehens und des Nicht-Verstehens konfrontiert.

Während grammatische Regeln und die Zusammensetzung von Wörtern bzw. der Wortschatz bereits als etwas zu lesen sind, was Ausdruck (sprach-) kulturellen Denkens ist, handelt es sich bei einem schriftlichen Text um eine noch weitaus komplexere „Verdichtung“ kulturellen Denkens. Nicht nur, dass Texte aus Wörtern und grammatischen Strukturen gebildet sind; diese Wörter und Strukturen geben zudem durch die Art und Weise, wie sie miteinander verflochten sind, und durch die Wahl ihrer Wörter dem eine Text- Form, was sie in ihrer Gesamtheit ausdrücken wollen. Sie stellen dadurch als Gesamttext gleichzeitig einen sprachlich „verdichteten“ Ausdruck eines spezifi schen Aspektes der (Zweitsprachen-)Kultur dar.

Wenn Lernende einen Sach- oder Fachtext lesen sollen, sind sie mit einem anderen (sprachlichen) Ausdruck der (Zweitsprachen- ) Kultur konfrontiert als wenn sie einen literarischen Text vor Augen haben. Im ersten Fall liegt ihnen im Prinzip ein Text vor, der vorhandenen »objektiven« bzw. »objektivierbaren« Sachen, Sachverhalten und Handlungsweisen innerhalb einer Kultur einen sprachlichen Ausdruck gibt. Texte dieses Bereichs werden deshalb auch expositorische, darlegende Texte genannt, die eine informierende, erläuternde Gebrauchs- und Zweckfunktion haben. Im zweiten Fall kommen die Lernenden mit einem grundlegend anderen Ausdruck der Zweitsprachenkultur in Berührung. Im literarischen Text finden sie einen subjektiven, sprachlichen Ausdruck kulturellen Denkens und Lebens. Stehen im Sach- bzw. Fachtext primär sachlich oder fachlich überprüfbare Fakten der Zweitsprachenkultur im Mittelpunkt, steht im Zentrum des literarischen Textes der Mensch als Individuum in seinem Denken, Fühlen und Handeln. Beide Textformen beziehen sich somit auf die kulturelle Welt, für die sie Ausdruck sind. Doch beide realisieren dies auf je unterschiedliche Weise. Nicht nur, dass die eine Perspektive »objektivierend « ist und die andere »subjektiv« – beide Textformen repräsentieren in ihren unterschiedlichen Sichtweisen und trotz ihrer unterschiedlichen Sichtweisen dieselbe Zweit-Sprachenkultur.

Ein fremdkultureller Lerner hat es also bei der Beschäftigung mit diesen Textformen mindestens mit zwei „Verdichtungen“, zwei unterschiedlichen „Wirklichkeiten“ der Zweitsprachenkultur zu tun: Die eine „kulturelle Wirklichkeit“ ist, wie sie ist, die andere „kulturelle Wirklichkeit“ ist, wie sie (nicht) wünschenswert wäre. Da interkultureller Unterricht einen Dialogcharakter hat, die Lernenden also in ihrer kulturellen Identität im Unterricht mit der kulturellen Identität der Zweitsprachenkultur „im Gespräch“ sind, führen sie dieses „Gespräch“ auch bei der Arbeit mit Texten. Da die genannten zwei Textformen aber auf verschiedene Art „sprechen“, verläuft auch das „Gespräch“ mit ihnen auf eine unterschiedliche Weise.

Gespräch zwischen Fremdem und Eigenem

Da Sach- und Fachtexte und literarische Texte jeweils „anders sprechen“, fühlen sich Lernende von ihnen auch jeweils „anders angesprochen“. Nicht nur müssen die Lernenden verschiedene „Sprachen“ lernen, sie werden in diesen spezifischen Zweitsprachen- Formen zugleich mit jeweils unterschiedlichen Wirklichkeiten der fremdkulturellen Welt konfrontiert und dadurch in ihrer (kulturellen) Identität auf unterschiedliche (zweit-)sprachige Weise berührt. Was ihnen unter Umständen ohnehin in dieser Welt bereits fremd vorkommt, präsentiert sich ihnen in diesen Texten in weit komplexerer Form. Nicht nur Wörter und Sätze müssen gelernt werden, sondern diese müssen zugleich zu unterschiedlichen Wirklichkeiten der Kulturen und Sprachen in Beziehung gesetzt werden. Und da diese Texte selbst ein je spezifischer zweitsprachiger Ausdruck der Kultur sind, wird ihnen diese Welt gegebenenfalls erneut und auf mehrfache Weise fremd.

Sich dem zu nähern, ohne dabei von der eigenen kulturellen Identität absehen zu müssen – eine Maxime, die einen zweitsprachigen, interkulturellen Unterricht stets leiten sollte –, gelingt m.E. sehr gut durch die Lektüre zweitsprachiger literarischer Texte. Es sei hier betont, dass die Arbeit an Sach- und Fachtexten gleichermaßen bedeutsam ist und in manchen Lern- und Arbeitszusammenhängen auch im Mittelpunkt steht und stehen muss. Die folgenden Gedanken zu literarischen Texten sollen hier aus folgenden Gründen die Überlegungen zum interkulturellen Zweitsprachenunterricht beschließen: Ein literarischer Text ist subjektiv – so wie sein Leser; ein literarischer Text fragt und antwortet – so wie es sein Leser tut; ein literarischer Text ist in einer Sprache geschrieben, die sowohl die Zweitsprache ist als auch in literarischer Sprache erscheint – dadurch wird sie dem Leser auf doppelte Weise fremd; ein literarischer Text bezieht sich gleichzeitig auf mehrere Wirklichkeiten: auf die individuelle Wirklichkeit des Schreibenden (auf zum Beispiel das Denken, Handeln und Fühlen im Alltag), auf die (fremd-)kulturelle Wirklichkeit des Schreibenden (auf zum Beispiel Normen, Werte, Konventionen und Moral) und auf die sprachliche Wirklichkeit, die literarische Sprache (auf zum Beispiel Symbole, Stil, Verse), d. h. auf sich selbst.

Durch diese Qualität präsentiert der literarische Text dem Lesenden die sprachlichen fremden Wirklichkeiten und gibt dem Lesenden dadurch die Möglichkeit, ihnen während des Leseprozesses seine eigenen Wirklichkeiten – seine eigene kulturelle Identität, seine Erinnerungen und Erfahrungen – gegenüberzustellen.

Ein literarischer Text fordert den Lesenden immer zum Vergleich auf. Ein literarischer Text repräsentiert somit selbst u. a. das, was das „Interkulturelle“ im Kern ausmacht, nämlich ein Dialog zwischen Individuen und Kulturen zu sein. Und da der Lesende auch Zweitsprachenlerner ist, lernt er gleichsam im Dialog etwas von der fremden Sprache und Kultur und über die fremde Sprache und Kultur. Durch die Betonung literarischer Texte des „Ich“ - „Wir“ und des „Du“ - „Ihr“ und dadurch, dass Literatur die fremdkulturelle Wirklichkeit so zeigt wie sie (nicht) wünschenswert wäre, können die Lernenden im Fremden auch immer das Eigene – die eigenen Wünsche und Träume – fi nden, wieder fi nden oder gar neu erfi nden. Literarische Texte können ein guter Weg sein, fremdkulturellen Lernenden ein „Gespräch“ mit der Kultur anzubieten, in dem sie ihr Eigenes bewahren und das Fremde kennen lernen können, ohne von ihm beherrscht zu werden.

Angaben zum Autor

Rolf Schmidt, Studienrat an der Staatlichen Fachschule für Sozialpädagogik Hamburg-Altona; Lehrtätigkeit in multi-nationalen Sprachkursen; Arbeitsschwerpunkt: Deutsch als Zweitsprache im interkulturellen Unterricht.

Der Text wurde im März 2004 veröffentlicht in der Broschüre:

„Interkulturelle Kompetenz in der pädagogischen Praxis – eine Einführung“

vom europäischen Flüchtlingsrat Schleswig-Holstein, Oldenburger Str. 25; 24143 Kiel

Tel: 0431 / 73 50 00, Fax: 0431 / 73 60 77

Redaktion: Claudia Langholz

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