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Ausgrenzung mit System

Wie die neue Arbeitsmarktpolitik Integration von Migrantinnen und Migranten verhindert – 3 Beispiele, die keineswegs Ausnahmen sind

Die Wahrheit ist immer konkret: zum Beispiel Ay?a

„Ich kann es immer noch nicht glauben. Soll das alles sinnlos gewesen sein?“ Was Ay?a B. heute zur Verzweiflung bringt, hätte sie vor ein paar Monaten noch voller Stolz erzählt.

Denn sie hatte viel geschafft. Es war ihr gelungen, ihr Deutsch durch die Hausaufgaben, die sie mit ihren Kindern machte, kontinuierlich zu verbessern. Diese Grundkenntnisse reichten ihr nicht aus. Sie übte selbständig Deutsch mit CDs. Als alleinerziehende Mutter von 3 Kindern war das nicht immer einfach. Doch dank ihrer hohen Motivation und Disziplin hielt die Marokkanerin durch. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Bei einem Deutschtest bei beramí e.V., der dem Zertifikatsniveau Deutsch als Fremdsprache entspricht, erzielte sie hervorragende Ergebnisse: Bei den Grammatikfragen erreichte sie 97 %, im schriftlichen Ausdruck 87 %, im Leseverstehen 80 %.

Worauf sie sich mit diesem Test einließ, wusste Ay?a. Er prüft die Deutschkenntnisse von Migrantinnen, die eine Umschulung zur Groß- und Außenhandelskauffrau machen wollen und liegt in seinen Anforderungen über dem Niveau anderer Bildungsträger. Ay?a hatte sich davon nicht abschrecken lassen. Sie empfand die hohen Ansprüche sogar als Ansporn. Und als Sicherheit: Wenn ich diese Hürde schaffe, bestehe ich auch die IHK-Prüfung. Es hatte sie überzeugt, dass es in den beramí-Umschulungsklassen zur Groß- und Außenhandelskauffrau so gut wie keine Abbrüche gab, dass die Umschülerinnen überdurchschnittliche IHK-Prüfungsergebnisse erzielen und – trotz der Tatsache, dass alle Absolventinnen ihren Berufsabschluss in der Zweitsprache Deutsch ablegen – seit Jahren bessere Noten vorweisen können als die muttersprachliche Vergleichsgruppe. Sie hätte es vielleicht nicht so ausgedrückt, aber der gute prognostische Wert der Eingangsprüfung in Deutsch gab ihr die Gewissheit, eine entscheidende Stufe in ihrer beruflichen Entwicklung gemeistert zu haben. In ihrem Engagement, ihrer Eigeninitiative und ihrem Fleiß fühlte Ay?a sich bestätigt: Lohn der Mühe.

Lange Wege

Sie ging zum Arbeitsamt Frankfurt am Main, um einen Bildungsgutschein für eine Umschulung zur Groß- und Außenhandelskauffrau zu bekommen. Und erhielt die Auskunft, die Förderbedingungen hätten sich geändert, sie müsse einen weiteren Test Wirtschaft und Soziales bestehen.

Unverdrossen stellte sich Ay?a auch dieser Herausforderung. Wieder wurde ihre Risikobereitschaft und ihr Mut – so schien es jedenfalls zunächst – tatsächlich auch belohnt. Mit 75 % konnte sie ein passables Ergebnis vorweisen (Mathe: 75 %, Englisch: 57 %, EDV: 80 %).

Der erneute Weg zum Arbeitsamt Frankfurt, um endlich den hart erkämpften Bildungsgutschein zu erhalten, brachte ihr den Schock. Er wurde ihr abermals verwehrt. Zudem mit einer Begründung, die sie an allem zweifeln lässt, was sie bisher zum Thema Bildungsbereitschaft von Migrantinnen und Migranten gehört hatte. Selbst wenn ihr Resultat bei 90 % gelegen hätte, so hielt ihr ihre Arbeitsberaterin entgegen, bliebe der Bildungsgutschein für sie unerreichbar. Warum? Sie sei zu wenig integriert.

Ay?a trägt kein Kopftuch. Sie wollte ihren drei Kindern ein Vorbild sein. Sie hat sich nie in die Rolle des passiven Opfers begeben. Zu wenig integriert?

Was soll Ay?a jetzt tun? Wieder, wie sie es schon 4 Jahre lang gemacht hat, als Verkäuferin in einem Aushilfsjob arbeiten? Sollte das ihre berufliche Endstation sein – nach 11 Jahren Schulbesuch in Marokko, nach eigenständigen Bildungsbemühungen, den Anschluss in der Gesellschaft zu finden, in die sie eingewandert ist? Nach den unendlich vielen Nachtstunden am Computer, in denen sie Deutsch gebüffelt hatte? Kann es sich eine erklärte Einwanderungsgesellschaft erlauben, so die Leistungsbereitschaft der hier Zugewanderten zu frustrieren? Ist das das letzte Wort: Ay?a bleibt Verkäuferin zur Aushilfe? Wenn sie mit ihrer Familie davon nicht leben kann, geht sie zum Sozialamt.

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Zum Beispiel Swetlana

Anders als Ay?a verfügt Swetlana N. über einen kaufmännischen Bildungsabschluss und langjährige qualifizierte Berufserfahrung. Sie kann neben Polnisch und Russisch exzellente Deutschkenntnisse vorweisen. Bei Bewerbungen ist sie allerdings immer daran gescheitert, dass sie keinen deutschen Berufsabschluss vorlegen konnte. Ihre Qualifizierung in Polen wird hier nicht anerkannt.

Dies wollte sie ändern. Doch auch sie erhielt keinen Bildungsgutschein. Sie scheiterte an einem Kriterium, dessen Erfüllung nicht in ihrer Macht steht. Sie kann keine drei Jahre Schulenglisch nachweisen – das Aus für jede Person, die heute eine kaufmännische Umschulung beginnen will. Ob sie aus eigener Initiative Englisch gelernt hat, ob sie über gute aktive Englischkenntnisse verfügt, ist nicht von Belang. Testergebnisse, Leistungen zählen nicht. Fehlen im Schulzeugnis die drei Jahre Englisch, bleibt der Bildungsgutschein ein Traum.

Ayla: empört und erleichtert

Ayla D. verschlägt das Beispiel dieser beiden Frauen im ersten Augenblick die Sprache. Das sei doch ein Skandal, empört sie sich. „Auf der anderen Seite bin ich heilfroh, dass ich vor Jahren meine Umschulung abgeschlossen habe. Heute hätte ich diese Chance nicht mehr.“ Ayla hat ihre Umschulung zur Groß- und Außenhandelskauffrau mit 1er und 2er Noten bestanden. Es war gar keine Frage, dass sie sofort eine Stelle fand. „Aber hätte ich damals vor Beginn meiner Qualifizierung einen guten Realschulabschluss und drei Jahre Englischunterricht in der Schule nachweisen müssen, so hätte ich passen müssen. Beides konnte ich nicht.“ Ayla liebt ihren Beruf und ist im Betrieb eine anerkannte Kollegin. Hat sie etwa die Kriterien für einen erfolgreiche berufliche Integration nicht erfüllt?

Diese drei Beispiele sind beileibe keine Ausnahmen. Sie demonstrieren die Folgen einer Arbeitsmarktpolitik, die die Möglichkeit einer Zielgruppenförderung in der beruflichen Bildung neuerdings grundsätzlich ausschließt. Das Ergebnis ist eine Ausgrenzung mit System.

„Fordern und fördern“ – selbstverständlich. Aber wie?

Die Devise „Fordern und fördern“, die u.a. mit den Arbeitsmarktreformen realisiert werden soll, richtet sich an imaginäre „Kunden“ – wie es seit einiger Zeit auch in der Terminologie der Arbeitsverwaltung heißt –, die sich autonom, gut informiert und rational auf dem Arbeitsmarkt bewegen, die idealen Gesamtarbeitslosen. Der Markt ist für sie transparent und überschaubar, sie verfügen über klare Ziele und Strategien. Sollte es sie tatsächlich geben, so ist davon auszugehen, dass sich Migranten und Migrantinnen in der Gruppe der idealen Gesamtarbeitslosen seltener finden als Deutsche. Denn für Einwanderer spielt eine fundierte Beratung (zur Information, zur Orientierung und zum Kennen lernen von Übergängen zwischen Bedingungen des Herkunftslandes und denen der Bundesrepublik Deutschland) eine größere Rolle als für andere Gruppen des Arbeitsmarktes, was bislang von der Bundesanstalt für Arbeit auch durch gezielte Förderung anerkannt wurde. Ihre Aufhebung bedeutet, dass Beratung nicht mehr bezahlt wird. Doch spezifische Benachteiligungen sind ja nicht einfach dadurch verschwunden, dass sie in einem neu definierten Kundenbegriff nicht mehr vorkommen. Um Chancengleichheit zu verwirklichen, ist es unerlässlich, von der realen Ungleichheit der Chancen auszugehen.

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Ausgrenzungsmechanismen

Die selektive Wirkung der Hartz-Reformen auf Migranten und Migrantinnen ist in der Öffentlichkeit bislang weitgehend unbeachtet geblieben. Viele erklärte Reformabsichten wie die Beschleunigung der Arbeitsvermittlung, der Abbau von Bürokratie, die Delegation von Vermittlungsaufträgen an Private finden breite Zustimmung. Zahlreiche andere Reformaspekte blieben dagegen im Hintergrund.

So streicht die Hartz-Reform die gezielte Förderung bestimmter Personengruppen ersatzlos. In ihren Folgen widerspricht diese Abschaffung jeder Zielgruppenförderung den erklärten Integrationszielen dieser Gesellschaft und dieser Regierungskoalition.

Zwei weitere Reformfolgen wirken in die gleiche Richtung.

Die erste: Die Weiterbildungsförderung wird erheblich gekürzt. Laut einer Auskunft des Bundesministeriums für Wirtschaft und Arbeit (Antwort von Beate Geiss im Auftrag der Bundesminister Clement und Schily an beramí e.V. vom 22.09.2003) ist die Weiterbildungsförderung in diesem Jahr um € 1,4 Mrd. gekürzt worden (von 2002 € 6,7 Mrd. auf 2003 € 5,3 Mrd.).

Die zweite: Die Bundesanstalt für Arbeit hat zur Umsetzung von Hartz I und II die Vorgabe erlassen, künftig nur noch solche Weiterbildungen zu fördern, die eine Verbleibsquote von 70% wahrscheinlich erscheinen lassen. 70% Vermittlung in den ersten Arbeitsmarkt ist für migrantenspezifische Weiterbildungen aber eine unerreichbar hohe Latte.

Sie legitimiert sich nach dem Rasenmäherprinzip. Die Verbleibsquote gilt schließlich gleichermaßen für alle. Sie wirkt aber selektiv. Und dies ist durchaus beabsichtigt.

Der Beleg für diese Behauptung: Im Auftrag von Florian Gerster beantwortete Hans-Uwe Stern von der Bundesanstalt in Nürnberg am 30.09.2003 ein diesbezügliches Schreiben von beramí e.V. mit den Worten: „Der Auswirkungen auf die Weiterbildungsförderung von Migrantinnen und Migranten, die durch die Neuausrichtung der Weiterbildungsförderung möglicherweise hervorgerufen werden können, bin ich mit bewusst.“ Eine niedrigere Messlatte für sie widerspreche aber den Effizienzkriterien der Bundesanstalt für Arbeit. „Generell werden auch weiterhin Migrantinnen und Migranten gefördert, wenn auch nicht mehr in dem Umfang wie bisher.“ Eine für behördliche Diplomatie im Grunde sehr klare Sprache.

Die Kombination aller drei Mechanismen – Entfallen der Zielgruppenförderung, Schrumpfung des Weiterbildungstopfes und 70%-Latte – schließt große Gruppen von Migrantinnen und Migranten von Weiterbildung aus. Zu fürchten und zu vermuten ist, gerade auch diejenigen, die sie am nötigsten bräuchten.

Die unangenehme Kleinarbeit bleibt dann den örtlichen Arbeitsämtern überlassen. Sie müssen immer neue und schärfere Kriterien kreieren, um die wenigen Bildungsgutscheine, die zur Teilnahme an einer beruflichen Weiterbildung berechtigen, an die frustrierten Kunden, die Arbeitslosen, auszugeben. Ay?a und Swetlana können ein Lied davon singen, was das in der Praxis konkret heißt.

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Paradoxien

Die rot-grüne Regierung war mit dem Anspruch angetreten, eine moderne Einwanderungs- und Integrationspolitik zu realisieren. Mit der alten Lebenslüge, kein Einwanderungsland zu sein, wollte sie aufräumen. Bis weit in das konservative Lager hinein gelang es ihr tatsächlich, neue Mehrheiten für das Selbstverständnis als Einwanderungsgesellschaft zu gewinnen.

Migrantinnen und Migranten befinden sich seitdem in einer geradezu paradoxen Situation. Einerseits versteht sich Deutschland erstmals mehrheitlich und nach langen Debatten als Einwanderungsland und erkennt die Integration der hier einwandernden oder hier lebenden Migrantinnen und Migranten als gesellschaftliche und staatliche Aufgabe an. In scharfem Kontrast dazu stehen andererseits die eklatanten Chancenungleichheiten in der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt. Ein Einwanderungsland mit einer migrantenfeindlichen Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik – so lautete kürzlich das pointierte Urteil der scheidenden Berliner Ausländerbeauftragten Barbara John (Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 25.05.2003). Ein Einwanderungsland, so könnte man den Gedanken der CDU-Politikerin fortführen, in dem in zwei entscheidenden Politikfeldern die Integration bis dato versagt hat.

Die ersten politischen Reaktionen auf die Pisa-Studie und den Paradigmenwechsel in der Einwanderungspolitik sind nicht eindeutig: Integrationskurse für die neu Zugewanderten wurden inzwischen eingeführt, wenn auch ihre endgültige Gestalt noch nicht feststeht. Migrantenkinder erhalten mehr deutschsprachliche Frühförderung. Ein Anfang scheint gemacht.

Ein ganz anderes Bild ergibt sich indessen in der Arbeitsmarktpolitik. Statt Förderung, Integration und Inklusion ist die – offenbar durchaus gewollte – Folge der neuen Arbeitsmarktpolitik Ausschluss von Chancengleichheit und beruflicher Qualifizierung. Die drei Beispiele von Ay?a, Swetlana und Ayla illustrieren dies. Sie stehen stellvertretend für viele Gruppen von Frauen (z.B. Berufsrückkehrerinnen) und von Migrantinnen und Migranten.

Was nützen staatlich kofinanzierte EU-Gelder für Gender Mainstreaming in Millionenhöhe, wenn gleichzeitig die Chancen für eine Erfolg versprechende berufliche Integration von Frauen durch die Bundesanstalt für Arbeit systematisch abgeschafft werden? Polemisch gesprochen: herausgeschmissene Steuermillionen. Wenn sich die Hartz-Reform an den Gender-Kriterien (Auswirkung auf die Chancengleichheit der Geschlechter) messen lassen müsste, so wäre ihr ein äußerst kritisches Urteil sicher.

Was ist, um ein anderes Politikfeld zu wählen, von den gleichfalls mit großen Summen geförderten Programmen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung BMBF zu erwarten, die in Übereinstimmung mit den Deklarationen der EU-Kommission den Grundsatz des lebensbegleitenden Lernens für alle, insbesondere für bildungsferne Zielgruppen, auf ihre Fahnen schreiben, wenn zeitgleich die beruflichen Fördermöglichkeiten für eine riesige Gruppe dieser Gesellschaft, die an beruflicher Bildung bislang kaum teilhatte, sie aber nötigst braucht: für Migrantinnen und Migranten, so weit zurückgefahren werden, dass nur noch eine Spitzengruppe Zugang hat? Besondere Förderprogramme wie die „Lernende Region“ des BMBF können nicht wettmachen, was eine Arbeitsmarktpolitik an struktureller Verhinderung von Chancengleichheit in der beruflichen Bildung bewirkt. Sie sind ein Tropfen auf den heißen Stein. Nachhaltigkeit können diese Programme, so ist zu befürchten, nicht für sich in Anspruch nehmen, wenn die Arbeitsmarktpolitik in eine gegenteilige Richtung steuert – Richtung Ausgrenzung.

Glaubwürdige Integrationspolitik ist ohne Weiterbildungsförderung für Migrantinnen und Migranten nicht zu machen

Bekenntnisse zu Leistungsbereitschaft, Initiative und Eigenverantwortung verlieren völlig ihre Glaubwürdigkeit, wenn Menschen, die diese Haltungen vorbildlich repräsentieren wie die drei geschilderten Migrantinnen, die für viele stehen, in ihren Bemühungen frustriert und entmutigt und auf eine Opferrolle zurück gestoßen werden. Auf diese Weise verfestigt die Arbeitsmarktpolitik eine „Ausländerproblematik“, die – glaubt man übergeordneten politischen Zielen – gerade überwunden werden soll. Und diese Gesellschaft riskiert den Rest an Vertrauen derjenigen, an deren Integrationswillen es angeblich ohnehin schon hapert.

Statt eines Kahlschlags gehörte deshalb die Entwicklung differenzierter Förderinstrumente auf die Tagesordnung der Bundesanstalt für Arbeit wie auf die aller anderen Institutionen, deren Ziel die Integration von Migrantinnen und Migranten ist. Die öffentliche Debatte hierüber ist mehr als überfällig.

Ay?a und Swetlana ist es letztendlich egal, aus welchen Töpfen ihre Qualifikationsbemühungen bezahlt werden, ob aus den Versicherungsgeldern der Bundesanstalt für Arbeit oder aus Steuermitteln. Sie wollen raus aus der Arbeitslosigkeit und hinein in eine qualifizierte Beschäftigung mit langfristig guten Aussichten. Auf Arbeitsplätzen für Ungelernte haben sie diese Chance nicht. Dies wissen die beiden realitätstüchtigen Frauen. Sie sind bereit, sich fordern zu lassen. Wonach sie allerdings verzweifelt und bis jetzt vergeblich suchen: auch gefördert zu werden.

Autorin: Ingrid Peikert,

Kontakt: peikert@berami.de, www.berami.de

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